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Falsetto

Falsetto

Titel: Falsetto Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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helfen... zum Conservatorio zurückzukehren.«
    Aber dann verbeugte er sich vor dieser uralten Frau, küßte ihr die Hand. In ihrem Gesicht, das einstmals hübsch gewesen war, lag eine solche Freundlichkeit, selbst in dem schrumpeli-gen Arm, der sich ihm entgegenstreckte, lag Anmut.
    »Nein, Maestro ... !« flüsterte er.
    Sie tanzte in ihren weißen Pantoffeln leichtfüßig dahin. Er spürte, wie sich das Zimmer um ihn herum drehte und drehte.
    Er durfte jenes blonde Mädchen nicht zu Gesicht bekommen.
    Er durfte sie auf keinen Fall sehen! Er würde verrückt werden, wenn sie plötzlich auftauchte.
    Sie standen einander gegenüber, die Marchesa und er, die Musiker spielten gerade eine Quadrille, und wie durch ein Wunder gelang es ihm, vorwärts zu gehen, sich vor seiner Partnerin zu verbeugen, mit ihr gemeinsam die lange Reihe von Paaren entlangzuschreiten, wie er es schon Tausende von Malen getan hatte.
    Guido tauchte auf, seine braunen Augen waren zu groß für sein Gesicht.
    Und dann hielt Tonio sich an Guido fest, sagte zu irgend jemandem irgend etwas, entschuldigte sich. Er mußte weg hier, er mußte diesen Ort verlassen, er mußte in sein Zimmer zu-rückkehren, sein eigenes Zimmer, vielleicht sollte er auch auf den Berg hinaufsteigen. Ja, auf den Berg hinaufsteigen. Dies war die eine Sache, die er vor sich selbst nicht eingestehen konnte! Es war unerträglich.
    Nein, nein, nein. Er schüttelte den Kopf. Er konnte es unmöglich jemandem erzählen, aber der Gedanke, daß er niemals wieder bei einer Frau liegen konnte, war unerträglich. Er wür-de laut zu schreien anfangen, wenn er nicht aufhörte, daran zu denken. Wo war sie? Er hatte keinen Augenblick geglaubt, daß Alessandro wirklich dazu in der Lage war! Er hatte seine Mutter für solch ein Kind gehalten. Und Beppo? Unvorstellbar.
    Und Caffarelli, was hatte er wirklich getan, wenn er mit den Frauen allein war?
    Guido hievte ihn in die Kutsche. »Ich will auf den Berg hinauf!«
    wiederholte Tonio wütend. »Lassen Sie mich in Ruhe. Ich will gehen, ich weiß, wohin ich gehe.«
    Die Kutsche fuhr los. Er sah die Sterne oben am Himmel, spürte den warmen Wind auf seinem Gesicht und sah die be-laubten Zweige nicken, als wollten sie ihn streicheln. Wenn er jetzt an die kleine Bettina in der Gondel dachte, das weiche Nest weißer Glieder, die seidige Haut an der Innenseite ihrer Schenkel, würde er den Verstand verlieren. Verbannt ihn! Er würde nie wieder einen Fuß dorthin setzen, bis ... ja bis ...
    Er verlor die Balance, kippte gegen Guido. Sie standen vor den Toren des Conservatorio, und er sagte: »Ich will sterben.«
    Bevor ich dir anvertraue, was mich quält, sterbe ich lieber. Da sprach wieder jene Stimme in seinem Inneren zu ihm. Sie sagte: »Verhalte dich, als wärst du ein Mann«, und er ging die Treppe hinauf und zu Bett, als würde er gar nichts fühlen, rein gar nichts.

    4

    Es war bald klar, daß, wann immer Tonio zu müde zum Arbeiten war, Guido irgendeine Belohnung für ihn bereithielt. Sie besuchten dann die Oper, oder Tonio bekam irgendwelche einfachen Arien zu singen, an denen er Spaß hatte. Aber Guido ließ sich nicht täuschen, er wußte genau, wann sein Schü-
    ler nicht mehr konnte. Eines Nachmittags, als Tonio ungewöhnlich mutlos war, führte Guido ihn aus dem Übungszimmer hinaus, den Korridor entlang zum Theater des Conservatorio.
    »Setz dich hin und paß auf«, sagte er und ließ Tonio in der hintersten Stuhlreihe Platz nehmen, wo er seine schmerzen-den Glieder ausstrecken konnte, ohne daß es jemand merkte.
    Tonio war von den Klängen, die er aus diesem Raum hatte dringen hören, stets mehr als nur fasziniert gewesen.
    Er war begeistert, als er feststellte, daß dieses kleine Theater ebenso luxuriös war wie jene, die er in venezianischen Palazzi gesehen hatte. Es besaß einen Rang mit Logen, die alle mit smaragdgrünen Vorhängen ausgestattet waren. Etwa fünfundzwanzig Musiker spielten im Orchestergraben, was eine beeindruckende Zahl war, da auch das Opernhaus für manche Vorstellungen kein größeres Orchester zur Verfügung hatte.
    Alle spielten sie vor sich hin, ohne auf die Sänger zu achten, die ihre Tonleitern übten. Der junge Komponist Loretti, ein Schüler des Conservatorio, erklärte aufgebracht, daß die In-szenierung bis zur Premiere, die in zwei Wochen stattfinden sollte, niemals fertig sein würde.
    Guido, der an der Tür stand, lachte darüber kurz und erklärte Tonio, daß alles wunderbar liefe.
    Tonio schrak auf,

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