Falsetto
hier. Es kam ihm so vor, als sähe er, wohin er auch blickte, makellose Haut, üppige Dekolletés über schleifenbesetzten Miedern. Eine Frau, die so heftig lachte, daß sie keine Luft mehr bekam, hielt ihre rüschenumrahm-ten Brüste mit den Händen fest, als drohten sie, aus dem Oberteil ihres geblümten Taftkleides zu hüpfen. Als sie ihn sah, ließ sie ihre Lippen hinter einem weißen Spitzenfächer verschwinden, den ein Bogen roter Rosen zierte.
»Ich möchte hier raus«, flüsterte Tonio. »Ich muß hier weg.«
Eine Frau, die sich ihm näherte, sah er so böse an, daß sie verletzt zurückschrak. Er hatte sich abgewandt, stolperte jetzt in ein leeres Speisezimmer, in dem eine lange Tafel stand.
Dort war für etwa hundert Personen gedeckt, kostbares Geschirr und frischgeschnittene Blumen schmückten den Tisch.
An der Wand am anderen Ende stand in einem der tief einge-lassenen Fensterbogen eine einzelne junge Frau und beobachtete ihn.
Einen winzigen Augenblick lang dachte er, es sei die kleine Primadonna aus der Oper, und eine Welle der Verzweiflung überkam ihn. Er hörte wieder ihre volle Stimme, sah wieder ihre kleinen Brüste, die sich bei jedem untrainierten Atemzug hoben und senkten. Seine Verzweiflung verwandelte sich langsam in Panik.
Aber es war nicht die Primadonna. Diese junge Frau besaß zwar ebenso blondes Haar wie die Primadonna und blaue Augen, aber sie war hochgewachsen und hatte eine schlanke Statur. Ihre Augen waren sehr dunkel, fast rauchgrau. Sie trug ein schlichtes Kleid aus violetter Seide, ohne all die Verzierungen und Schleifen, die er auf der Bühne gesehen hatte. Das Kleid modellierte ihre Arme und Schultern auf erlesene Weise.
Sie schien ihn schon seit einiger Zeit zu beobachten. Außerdem hatte es den Anschein, als hätte sie, bevor er das Zimmer betreten hatte, geweint.
Er wußte, daß er diesen Raum verlassen mußte. Aber während er sie noch anstarrte, spürte er, wie sich bei ihm Zorn mit einer gewissen trunkenen Leidenschaft vermischte. Sie war geschmeidig, diese junge Frau. Aus ihrer Frisur hatten sich überall widerspenstige Härchen gelöst, die das strenge Aussehen der akkuraten Locken auf entzückende Weise milderten und ihr im Kerzenschein eine Aureole verliehen.
Ohne es zu wollen, ging er auf sie zu. Es war jedoch nicht nur ihr reizendes Aussehen, das ihn anzog. Sie wirkte irgendwie verlassen, hatte etwas Gleichgültiges an sich. Sie hatte geweint, geweint, dachte er, warum hatte sie geweint? Er stolperte. Er war sehr betrunken. Vor ihm auf dem Tischtuch schwankte eine Kerze, fiel um und erlosch. Duftender Rauch stieg zur Decke hinauf.
Dann stand er vor ihr, staunte über diese dunklen rauchblauen Augen. Es lag keinerlei Furcht vor ihm darin.
Keinerlei Furcht, keinerlei Furcht. Und warum in Gottes Namen sollte sie sich auch vor ihm fürchten? Er spürte, wie er die Zähne zusammenbiß. Er hatte nicht die Absicht gehabt, sie zu berühren, dennoch hatte er die Hand nach ihr ausgestreckt.
Und dann plötzlich, ohne Grund, traten ihr frische Tränen in die Augen. Sie weinte hilflos.
Dann war sie es, die ihren Kopf an seine Schulter lehnte.
Es war ein qualvoller Augenblick voller Entsetzen. Ihr weiches blondes Haar, das sich dicht vor seinem Gesicht befand, roch nach Regen. Zwischen den Rüschen ihres Mieders hindurch konnte er sehen, wie ihr Busen an seiner Brust ruhte. Er wuß-
te, daß er sie, wenn er sich jetzt nicht sofort von ihr entfernte, schlagen, daß er ihr entsetzliche Gewalt antun würde. Dennoch hielt er sie so fest, daß er ihr wahrscheinlich sogar weh tat.
Er faßte ihr unters Kinn und hob es an. Er preßte seinen Mund auf den ihren, dann hörte er sie aufschreien. Sie wehrte sich.
Es schien, als wäre er rückwärts gefallen. Sie war weit, weit entfernt von ihm, und ihr Gesichtsausdruck war so unschuldig und so betroffen, daß er sich nur noch umdrehen und aus diesem Zimmer fliehen konnte. Er rannte, bis er sich mitten im Ballsaal, der voller Tänzer war, wiederfand.
»Maestro«, murmelte er und wandte sich dabei suchend hierhin und dorthin. Als Guido ihn dann plötzlich am Arm nahm, bestand er darauf, sofort gehen zu wollen. Eine ältere Frau nickte Tonio zu, und Guido erklärte ihm, daß die Marchesa mit ihm zu tanzen wünsche. »Ich kann nicht...« Er schüttelte den Kopf.
»O doch, du kannst«, grollte Guido ihm leise ins Ohr. Er spürte Guidos Hand auf seinem Po.
»Verdammt«, flüsterte er. »Ich muß hier raus ... Sie müssen mir
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