Falsetto
er solle die Taverne verlassen. Er drohte ihm, soviel verstand Tonio.
Aber er begriff auch, daß das keine Rolle spielte. Der Augenblick war gekommen. Lorenzos Gesicht war haßerfüllt und voller Hinterhältigkeit, aber er war auch sehr betrunken. Als er langsam auf Tonio zukam, sah er so gefährlich aus wie jeder gewöhnliche Mann.
Tonio machte einen Schritt rückwärts. Er konnte nicht klar denken. Er mußte seine Waffe ziehen, doch er wußte, was geschehen würde, wenn er danach griff. Eines der Schankmädchen zog Lorenzo am Ärmel, die Männer, die an dem langen Tisch in der Mitte des Raumes gesessen hatten, erhoben sich jetzt und bildeten einen Kreis um Tonio und Lorenzo.
Plötzlich gab Guido Lorenzo einen heftigen Schubs, die Reihe der Zuschauer öffnete sich, aber Lorenzo taumelte nur und fand sein Gleichgewicht sofort wieder.
Tonio aber hatte jetzt ebenfalls seine Waffe gezückt.
»Ich will nicht mit dir streiten«, sagte Tonio auf italienisch.
Der Junge schleuderte ihm Verwünschungen in neapolitanischem Dialekt entgegen.
»Rede so, daß ich dich verstehen kann«, sagte Tonio. Es war, als hätte sich der Wein aus seinen Adern verflüchtigt. Er war kaltblütig, redete, dachte dabei aber etwas ganz anderes. Einen Moment lang empfand er echte Angst: Er stellte sich vor, wie diese Waffe tief in seinen Körper eindrang. Im selben Augenblick aber wußte er, daß er keine Zeit für diese Angst hatte und daß diese Angst ihn nicht besiegen konnte. Er hatte einen Schritt rückwärts gemacht, um die Distanz zwischen sich und Lorenzo, der bereit war, ihn mit seiner tödlichen Klinge zu durchbohren, zu vergrößern. Auf diese Weise konnte er den Jungen, der viel größer war als er und die typischen, schein-bar endlos langen Eunuchenarme besaß, auch besser sehen.
Als Guido sich anschickte, Lorenzo abermals einen Stoß zu versetzen, wirbelte der Junge herum, und jedermann wußte, daß er es ernst meinte. Es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte Guido niedergestochen.
Es schien, als würde sich eine weitere Gestalt in das Handgemenge im Dunklen einmischen, ein Mann, der Guido wegzog.
Wieder versuchte Guido, Lorenzo von hinten zu packen, aber als Lorenzo sich umdrehte und auf ihn losgehen wollte, stieß Tonio ein Knurren aus und kam auf ihn zu.
Lorenzo schnellte unverzüglich herum.
Dann geschah alles so schnell, daß Tonio es später nicht mehr rekonstruieren konnte. Der Junge ging auf ihn los, sein langer Arm schoß nach vorn, Tonio bückte sich darunter hinweg, richtete sich wieder auf und spürte, wie seine Klinge in Lorenzo eindrang.
Lorenzo krallte sich mit der linken Hand in Tonios Gesicht, Tonio zog das Stilett mit einem Ruck heraus. Dann taumelte Lorenzo rückwärts.
Ein erschrecktes Aufstöhnen ging durch die Menge. Lorenzos Augen waren schmal vor Haß, er hielt sein Stilett in die Höhe, dann plötzlich weiteten sich seine Augen.
Er fiel vornüber auf den Tavernenboden zu Tonios Füßen.
Tonio starrte auf ihn hinunter. Er war tot.
Es schien, als würde die Menge in ihrer Gesamtheit Tonio sanft aus der Taverne schieben. Eine Frau schrie, Tonio wuß-
te nicht, wie ihm geschah. Hände zogen ihn weg, drängten ihn vorwärts, führten ihn durch eine Tür in eine dunkle Gasse hinaus. Jemand erklärte ihm kurz, wie er von hier fortkäme, diesen Weg, los! Und plötzlich schob ihn Guido vorwärts.
Die Leute hatten ganz instinktiv versucht, ihn zu schützen.
Man würde zwar die Polizei rufen, aber sie hatten dem Mörder zur Flucht verholfen. Sie erwarteten von der Polizei nicht, daß sie irgend etwas regelte.
Tonio war vor Entsetzen so schlecht, daß Guido ihn in ein Kabriolett zerren und, am Conservatorio angekommen, durch die Eingangstür schleifen mußte. Selbst als Guido ihn in sein dunkles Studierzimmer schob, hörte Tonio nicht auf, in die Richtung zurückzublicken, aus der sie gekommen waren. Er rang um Worte, aber Guido bedeutete ihm mit einem Wink, zu schweigen.
»Aber ich. .. ich...«, keuchte Tonio, als bekäme er keine Luft.
Guido schüttelte den Kopf. Er hob kurz sein Kinn, dann nahm sein Gesicht demonstrativ einen verschlossenen Ausdruck an.
Als er aber sah, daß Tonio nicht verstand, was er meinte, flü-
sterte er: »Sag jetzt nichts!«
Den ganzen nächsten Tag kämpfte sich Tonio durch seine Übungen und wunderte sich dabei, daß er jetzt eine solche Kontrolle über seine Stimme hatte, daß er die Aufgaben be-wältigte.
Falls Lorenzos Tod je offiziell bekanntgegeben worden
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