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Falsetto

Falsetto

Titel: Falsetto Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Tafel, danach korrigierte Guido das Ganze, bevor er ihm erlaubte, es zu singen.
    Schließlich hatte er noch eine Stunde lang Unterricht in Komposition, dann endete der Tag mit Gesang. Zwischendrin gab es Pausen, in denen er im Chor des Conservatorio sang oder im Theater für die nächste Oper probte, die Ende des Sommers aufgeführt werden sollte.
    Dann waren da noch die Nachmittage, an denen die Jungen in verschiedenen Kirchen sangen oder Prozessionen begleiteten.
    Als Tonio sich das erste Mal bereitwillig der doppelten Reihe von Kastraten anschloß, die langsam durch die Straßen schritten, war es genauso schlimm, wie er es erwartet hatte. Ein Teil von ihm, ein Teil, der stolz war und der vielleicht immer noch fürchterlich litt, konnte nicht akzeptieren, daß er der gaffenden Menge als Eunuch vorgeführt wurde.
    Jedesmal aber, wenn er sich überwand, wurde sein Wille stärker. Wenn er sich dann von der Verachtung gegenüber dem, was er sah, frei machte, gewann er ganz neue Einblicke in das, was um ihn herum geschah. Er sah Ehrfurcht in den Augen jener, die die Straßen säumten. Sie begegneten den älteren Kastraten mit Respekt, lauschten aufmerksam ihren herrlichen Stimmen, prägten sich sogar einzelne Gesichter ein.
    Die Weihegesänge in der Sommerluft, die Kirche, die voller Licht und Duft war, all das nahm seine Sinne gefangen. Und Tonio, der nun endlich von belanglosen Gedanken eingelullt oder in die Vervollkommnung seines Gesangs vertieft war, empfand an all dem ein vages Vergnügen. In diesen reichge-schmückten Kirchen voller lebensecht wirkender Heiliger aus Marmor und voll von schimmernden Kerzen erlebte er heitere Augenblicke des Glücks.

    Eines Abends nach einem besonders luxuriösen Souper im Hause der Contessa Lamberti - einem Souper, bei dem hinter jedem Gast am Tisch ein Bediensteter stand und weitere am Rande des Saals warteten, um hier ein Glas zu füllen, dort eine türkische Zigarette an einer Kerze zu entzünden - bekam Tonio einen ungewöhnlichen Einblick darin, wie sich Guido unter Frauen verhielt, die er offensichtlich kannte und mit denen er sich einigermaßen natürlich unterhielt.
    Guido war in Rot und Gold gekleidet, was bemerkenswert gut zu seinen braunen Augen und seinem Haar paßte, und er war vollkommen entspannt, so als wäre er ganz und gar von einer bestimmten Frage in Anspruch genommen. Einmal lächelte er, dann lachte er, und in diesem Augenblick sah er so jung aus, wie er tatsächlich war. Er wirkte freundlich und schien eine Empfindungsfähigkeit zu besitzen, die Tonio nie bei ihm vermutet hätte.
    Tonio konnte den Blick nicht von ihm wenden. Selbst Domenico, der sich ans Cembalo gesetzt und zu singen begonnen hatte, vermochte ihn nicht abzulenken. Er beobachtete, wie Guido auf die Stimme des Jungen reagierte, und tat dies schon sehr lange Zeit, als Guido ihn in der Menge entdeckte.
    Sein Gesicht wurde daraufhin wieder hart und alt, und dann auch ein klein wenig ärgerlich.
    Tonio zuckte zusammen und sah weg. Er heftete seinen Blick jetzt auf Domenico. Als Domenico mit seinem Vortrag geendet hatte und das Zimmer vom Applaus wiederhallte, warf er Tonio einen seiner anmutigsten Blicke zu. In seinen Augen lag das Wissen, daß er Tonio gehörte.
    Ach, wie schändlich, dachte Tonio.
    Er haßte sich und alle Menschen ringsum. Er entfernte sich aus dem Saal, betrat irgendein dunkles Zimmer, in dem der Steinboden ein wenig feucht schien, vielleicht, weil der Raum sonst immer abgeschlossen war. Dort wanderte er dann im Mondlicht, das durch die hohen Fensterbögen hereinfiel, umher und dachte nach. Warum verachtet er mich, und warum macht mir das etwas aus? Zum Teufel mit ihm.
    Eine häßliche Scham überfiel ihn. Weil er der Geliebte eines anderen Jungen war? Ja, das war entsetzlich. Aber er wußte, warum er das tat. Jedesmal, wenn er mit Domenico schlief, bewies er sich nämlich, daß er dazu noch in der Lage war und deshalb auch mit einer Frau hätte schlafen können, wenn er gewollt hätte.
    Er war überrascht, als er hörte, wie sich hinter ihm die Tür öffnete. Also hatte ihn selbst hier irgendein Diener gefunden.
    Aber als er sich umdrehte, sah er, daß es Guido war.
    Tonio fühlte, wie eine Woge des Hasses auf diesen Mann in ihm aufstieg. Er wollte ihn verletzen. Wilde und törichte Gedanken kamen ihm in den Sinn. Er würde so tun, als hätte er seine Stimme verloren, einfach, um zu sehen, was Guido dann sagen würde. Oder er würde vortäuschen, krank zu sein, nur um Guido

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