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Falsetto

Falsetto

Titel: Falsetto Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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tun, daß er es wieder tun würde!

    Als er eine Stunde später das Übungszimmer betrat, brauchte er die Musik, brauchte er Guido. Er spürte, wie sich seine Stimme erhob, um den Herausforderungen dieses Tages mit neuer Klarheit und neuer Kraft zu begegnen. Hartnäckig ging er die schwierigsten und kompliziertesten Probleme an. Bis Mittag schließlich hatte die Tatsache, daß er dem schlichte-sten Ton Schönheit verleihen konnte, das ihre dazu beigetra-gen, seine Gedanken einzulullen.
    Als er an diesem Abend seinen Rock anzog, um auszugehen, merkte er, daß er ihm schon seit einiger Zeit nicht mehr richtig paßte. Er starrte seine ausgestreckten Hände an. Beinahe verstohlen sah er im Spiegel an sich herauf und war erstaunt, daß er in so kurzer Zeit so gewachsen war.

    6

    Tonio schoß rasch in die Höhe, daran bestand kein Zweifel, und jedesmal, wenn er das bemerkte, überfiel ihn ein Gefühl der Schwäche, eine Atemlosigkeit.
    Aber das behielt er für sich. Er ließ sich neue Röcke mit längeren Ärmeln anfertigen, wußte aber, daß er bald auch aus diesen herauswachsen würde. Obwohl Guido ihn im Unterricht forderte, schien es, als würde sich gleichzeitig ganz Neapel selbst übertreffen, um ihn abzulenken.
    Im Juli hatte er bereits das beeindruckende Schauspiel von St.
    Rosalia gesehen, bei dem das ganze Meer von Feuerwerken erhellt wurde und sich tausend strahlend hell erleuchtete Boote auf dem Wasser befanden.
    Jetzt im August kamen die Schäfer aus den fernen Bergen Apuliens und Kalabriens herunter. Sie spielten auf Flöten und Saiteninstrumenten, die Tonio noch nie zuvor gehört hatte, und besuchten, in grobe Kleidung aus Schaffellen gehüllt, die Kirchen und die Häuser des Adels.
    Im September fand die jährliche Prozession zur Madonna von Piè di Grotta statt, bei der alle Jungen aus Neapels großen Konservatorien mitgingen. Sie zogen unter Balkonen und Fenstern vorbei, die zu diesem Anlaß aufwendig geschmückt worden waren. Das Wetter war jetzt milder, die Sommerhitze war vorbei.
    Im Oktober versammelten sich die Jungen neun Tage lang morgens und abends vor der Franziskanerkirche, womit sie einer offiziellen Pflicht nachkamen, für die die Konservatorien von bestimmten Steuern befreit wurden.
    Bald verlor Tonio den Überblick über die Namenstage der Heiligen, die Festtage, die Volksfeste und die offiziellen Gelegen-heiten, zu denen er auftrat.
    Auch bei den sorgsam gestalteten Prozessionen der verschiedenen Zünfte fuhren die Jungen manchmal auf großen Flößen mit, außerdem sangen sie auf Beerdigungen.
    Und jede Stunde dazwischen, von früh bis spät, war da Guido.
    Da waren das Studierzimmer mit den kahlen Wänden und dem Steinboden, die Übungen und Tonios Stimme, die an Geschmeidigkeit und Präzision gewann.
    Anfang Herbst jedoch hatte Tonio einen Brief von seiner Cousine Catrina Lisani erhalten und war überrascht, wie wenig ihn das berührte.
    Sie kündigte darin an, daß sie nach Neapel kommen wolle, um ihn zu besuchen. Er antwortete ihr umgehend, daß ihm das nicht recht wäre. Er hätte die Vergangenheit hinter sich gelassen, so schrieb er. Wenn sie dennoch hier auftauchte, würde er sie nicht empfangen.
    Als er abermals einen Brief von ihr erhielt, antwortete er höflich, daß er, falls nötig, die Stadt verlassen würde, um eine Begegnung zu vermeiden.

    Danach veränderten sich ihre Briefe. Bislang hatte sie sich sehr vorsichtig ausgedrückt, da sie jetzt aber die Hoffnung auf einen Besuch aufgegeben hatte, schrieb sie ihm mit einer neuen Offenheit:

    Alle beklagen, daß Du fortgegangen bist. Sag mir, was Du Dir wünschst, dann schicke ich es Dir. Erst als ich Deinen Brief in Händen hielt, konnte ich glauben, daß Du am Leben bist, obwohl man mir etwas anderes gesagt hatte.
    Was würdest Du gerne von hier wissen? Ich werde Dir alles berichten. Deine Mutter ist, nachdem Du weg warst, sehr krank geworden und hat sich geweigert, etwas zu essen oder zu trinken. Jetzt aber ist sie wieder gesund.
    Und Dein Bruder, Dein treuer Bruder! Mein Gott, er macht sich Deinetwegen so große Vorwürfe, daß ihn nur das schöne Geschlecht, und zwar in großer Zahl, zu trösten vermag. Diese Medizin vermischt er dann mit soviel Wein wie möglich. Allerdings vermag ihn nicht einmal das davon abzuhalten, allmorgendlich im Großen Rat zu erscheinen.

    Als Tonio das gelesen hatte, legte er den Brief zur Seite, als würden ihn die Worte versengen. So bald schon ist er ihr also untreu geworden, überlegte er.

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