Falsetto
einmal besorgt zu erleben. Wie idiotisch! Du bist mir vielleicht jemand, murmelte er leise in sich hinein.
»Hast du von dem Trubel hier genug?« fragte Guido freundlich.
»Warum sollte Sie das kümmern!« höhnte Tonio.
Guido war erstaunt.
»Nun, es kümmert mich auch nicht im speziellen«, sagte er.
»Es ist nur so, daß ich davon genug habe. Ich würde gerne für eine Weile in die Stadt hinuntergehen, um in irgendeiner abge-legenen Taverne etwas zu trinken.«
»Es ist spät, Maestro«, sagte Tonio.
»Du kannst morgen früh ausschlafen, wenn du willst«, sagte Guido, »du kannst aber auch allein nach Hause gehen, wenn dir das lieber ist. Also, kommst du mit?«
Tonio gab keine Antwort.
Sollte er sich zusammen mit einem anderen Eunuchen in eine öffentliche Taverne setzen? Er konnte sich das nicht vorstellen. Ungehobelte Männer, das Gedränge und rauhe Gelächter, die Frauen mit ihren kurzen Röcken und ihrem anzüglichen Lächeln.
All die warmen, überfüllten Tavernen von Venedig fielen ihm wieder ein, das Café von Bettinas Vater und die vielen anderen Orte, die er und Ernestino mit den Straßensängern in jenen letzten Tagen besucht hatten.
Er vermißte das alles, er hatte es stets vermißt. Den würzigen Wein, den Tabak, das besondere Vergnügen, in Gesellschaft von anderen Männern etwas zu trinken.
Vor allem aber wollte er gehen können, wohin er wollte, ohne dabei ständig dieses erstickende Gefühl der Verwundbarkeit zu empfinden.
Aber Guido ging gerade aus dem Zimmer. Er war jetzt wieder frostig. »Nun, geh zurück, wenn du willst«, sagte er über die Schulter gewandt. »Ich kann, wie ich annehme, darauf vertrauen, daß du dich anständig benimmst.«
»Warten Sie«, sagte Tonio. »Ich komme mit.«
Es war brechend voll und entsprechend laut, als sie ankamen.
Die Musiker des Conservatorio waren da, außerdem eine gro-
ße Anzahl von Violinisten aus dem Opernhaus, die Tonio sofort erkannte. Auch ein paar Schauspielerinnen waren anwesend. Im großen und ganzen jedoch bestand die Menge aus Männern, zwischen denen hier und da hübsche Schankmädchen zu sehen waren, die versuchten, den Bestellungen, die ihnen von überall her zugerufen wurden, nachzukommen.
Tonio konnte sehen, daß Guido sich hier absolut wohl fühlte.
Selbst die Frau, von der sie bedient wurden, kannte er. Er bestellte den besten Wein, dazu etwas Käse und Obst, dann lehnte er sich in dem hölzernen Alkoven, in dem sie saßen, zurück, streckte die Beine aus und betrachtete zufrieden das Gedränge von Gästen im matten Schein der Lampen.
Der Wein in seinem Zinnbecher schien ihm zu schmecken.
Guido wirkte so entspannt, daß er ebensogut hätte allein sein können, dachte Tonio.
Tatsache war, daß sich in diesem Raum viele Eunuchen befanden und daß die Gäste genausowenig Notiz davon nahmen, wie es die Leute in den Buchhandlungen in Venedig getan hatten, wenn Alessandro hereinkam, um Kaffee zu trinken und dem Klatsch aus dem Theater zuzuhören.
Tonio trank den Wein in seinem Becher aus und schenkte sich aus der Flasche nach. Er betrachtete das schieferige Holz der Tischplatte, sah zu, wie auf der schmierigen Oberfläche hier und da Feuchtigkeitsbläschen aufstiegen und sie wie poliert glänzen ließen.
Zwei Musiker hatten, begleitet von einer Mandoline, mit einem Duett begonnen. Möglicherweise waren das richtige Straßen-sänger. Das Lied hatte etwas Wildes, Ungezähmtes an sich und klang ein wenig wie die Musik aus den Bergen, aber ganz anders als die Melodien aus dem Norden. Vielleicht war es eher spanisch beeinflußt.
Tonio schloß die Augen, ließ die Stimme des Tenors durch seine Gedanken gleiten, und als er seine Augen wieder öffnete, war sein Becher leer. Während er sich dann einen dritten Becher eingoß, merkte er, daß Guido ihn dabei beobachtete, aber nichts sagte.
Wann genau Lorenzo an den Tisch gekommen war, wußte er nicht. Er war sich lediglich schon seit einiger Zeit bewußt gewesen, daß dort jemand stand. Als er schließlich aufblickte, sah er, daß es Lorenzo war. Der Junge verdeckte mit seinem Kopf die tiefhängende Lampe, so daß Tonio nicht sehen konnte, war für eine Miene er machte.
»Was soll das, Lorenzo?« fragte Guido kalt.
Lorenzo beugte sich nach vorn und brüllte Guido plötzlich in neapolitanischem Dialekt an.
Tonio war aufgestanden, Lorenzo hatte sein Stilett herausgezogen. Die Gespräche ringsum waren verstummt, und in dieses Schweigen hinein sagte Guido Lorenzo offensichtlich,
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