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Falsetto

Falsetto

Titel: Falsetto Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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war, so hörte er nichts davon. Falls man die Leiche gefunden und zum Conservatorio zurückgebracht hatte, dann wußte er nichts davon.
    Wenn die anderen dann frühstückten oder zu Mittag aßen (der Gedanke, etwas zu essen, stieß ihn ab), lag er in seinem Zimmer und fragte sich, was mit ihm geschehen würde.
    Die Tatsache, daß Guido weitermachte wie gewöhnlich, war natürlich der wesentlichste Hinweis darauf, daß man Tonio nicht verhaften würde. Er wußte, wußte ganz genau, daß Guido es ihm gesagt hätte, wenn er in Gefahr gewesen wäre.
    Als sich dann aber alles zum Abendessen versammelte, merkte er, daß eine feine, aber unmißverständliche Bewegung durch den Speisesaal lief. Jeder blickte irgendwann einmal zu ihm hin.

    Die normalen Jungen, denen er standhaft aus dem Weg gegangen war, so als gäbe es sie überhaupt nicht, nickten ihm, wenn sich ihre Blicke begegneten, ganz leicht, aber sehr bedeutsam zu. Der kleine Paolo, der Kastrat aus Florenz, dem es stets gelungen war, einen Platz neben Tonio zu ergattern, konnte seine Augen nicht von ihm abwenden. Schließlich vergaß er sogar zu essen. Auf seinem runden, stupsnasigen Gesicht lag ein Ausdruck höchster Faszination. Nicht ein einziges Mal zeigte er sein so typisches schelmisches Lächeln. Was die anderen Kastraten am Tisch anging, so ordneten sie sich Tonio plötzlich respektvoll unter, reichten ihm als erstem das Brot und den gemeinschaftlichen Krug Wein.
    Domenico war nirgendwo zu sehen. Zum ersten Mal wünschte Tonio sich, ihn in seiner Nähe zu haben, nicht nackt oben im Bett, sondern hier unten bei sich.
    Bei der abendlichen Theaterprobe dann kam Francesco, der Violinist aus Mailand, auf ihn zu und fragte ihn höflich, ob er in all seinen Jahren in Venedig je den großen Tartini gehört hät-te.
    Tonio murmelte zustimmend. Ja, und Vivaldi ebenfalls. Beide hatte er in jenem letzen Sommer an der Brenta gehört.
    Das hier war alles so unerwartet und seltsam!

    Endlich befand er sich wieder in seinem Zimmer. Er war erschöpft. Daß Lorenzo tot war, hatte ihn wie betäubt. Er wollte diese Tatsache nicht aus seinen Gedanken verbannen. Zwischendrin starrte er immer wieder lange den Gipfel des Vesuvs an. Lautlose Lichtblitze erhellten den Himmel in der Ferne, eine Rauchfahne kennzeichnete den Weg, den die La-va zum Meer hin genommen hatte.
    Es war, als würde er um Lorenzo trauern, weil es sonst niemanden gab, der um ihn trauerte.
    Plötzlich fand er sich weit, weit weg von hier wieder, in jener kleinen Stadt am Rande des venezianischen Staatsgebietes.
    Er rannte unter dem von Sternen übersäten Himmel dahin, spürte die Erde unter seinen Füßen zerbröckeln und merkte dann, wie ihn jene Bravos packten. Er wurde in jenes schmutzige kleine Zimmer zurückgeschleift. Er wehrte sich mit ganzer Kraft, während sie ihn wie in einem Alptraum immer wieder zu Boden zwangen.
    Er schauderte. Er sah den Berg an. Ich bin in Neapel, dachte er, dennoch entfalteten sich seine Erinnerungen mit der ganzen Unwirklichkeit eines Traumes.
    Flovigo verschmolz mit Venedig. Er hielt das Stilett in der Hand, und diesmal stand er einem anderen Gegner gegen-
    über. Seine Mutter weinte und weinte, das Gesicht hinter ihrem Haar verborgen, so wie sie in jener letzten Nacht im Speisezimmer geweint hatte. Sie hatten sich nicht einmal voneinander verabschiedet. Wann würden sie einander Lebewohl sagen können? Niemals hätte er sich damals träumen lassen, vor ihr getrennt zu werden. Und jetzt weinte und weinte sie, als gäbe es niemanden, der sie trösten konnte.
    Er hob das Messer. Er spürte das Heft seines Messers fest in der Hand liegen. Da sah er auf Carlos Gesicht einen vertrauten Ausdruck - was war es? Entsetzen? Überraschung? Das Bild zerriß.
    Er war in Neapel, sein Kopf ruhte auf dem Fensterbrett, er war erschöpft.

    Tonio öffnete die Augen, sah, daß die Stadt langsam erwachte. Die Sonne schickte ihre ersten Strahlen in den Nebel, der die Bäume einhüllte. Die See schimmerte wie Metall.
    Lorenzo, dachte er, du warst nicht der einzige, der es auf mich abgesehen hatte. Dennoch gab es bereits nichts mehr, was an den Jungen erinnerte. Tonio war stolz auf jenen abscheulichen Augenblick. Da war die Klinge, der Körper auf dem Tavernenboden.
    Betroffen senkte er den Kopf. Er begriff, warum er diesen er-bärmlichen Stolz fühlte. Er begriff genau, welchen Ruhm dieser entsetzliche Akt ihm einbrachte, welche Bedeutung er hatte.
    Daß er fähig gewesen war, das so leichtfertig zu

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