Falsetto
Ob sie wohl davon weiß? Und sie war krank. Ohne Zweifel war sie durch die Lügen, die er ihr vorgesetzt hatte, vergiftet worden. Es vergingen Wochen, bis er ihr antwortete. Er hatte sich eingeredet, daß diese wenigen Jahre hier nur ihm gehörten und daß er weder von ihr noch von sonst jemandem aus Venedig jemals wieder etwas hören wollte.
Eines Abends jedoch verspürte er ohne Vorwarnung oder Er-klärung das Bedürfnis, sich hinzusetzen und ihr einen kurzen aber höflichen Antwortbrief zu schreiben.
Danach vergingen keine zwei Wochen, in denen er nicht von ihr hörte. Oft verbrannte er allerdings ihre Briefe, damit er nicht in Versuchung kam, sie immer wieder von neuem zu lesen.
Er bekam eine weitere Börse aus Venedig zugeschickt und hatte jetzt mehr Geld, als er ausgeben konnte.
In diesem Winter verkaufte er seine Kutsche, da er sie nie benutzte und nicht unterhalten wollte. Da er der Meinung war, daß er, wenn er schon den langen und schlaksigen Körper eines Eunuchen besaß, wenigstens gut gekleidet sein sollte, ließ er sich prächtigere Kleidung machen als je zuvor.
Der Maestro di Cappella und auch Guido zogen ihn deswegen auf, aber er war stets großzügig, gab den Bettlern auf der Straße Goldmünzen und brachte dem kleinen Paolo Geschenke mit, wann immer er konnte.
Aber selbst jetzt war er noch reich. Dafür hatte Carlo gesorgt.
Er hätte sein Vermögen investieren können, aber er fand dazu nie die Zeit.
So ausgefüllt sein Leben auch war, so voller Veranstaltungen, Mühe und Arbeit, so war er doch erstaunt, als Guido ihm eines Morgens verkündete, daß er im Weihnachtsoratorium einen Solopart singen würde.
Weihnachten. Er war jetzt bereits seit einem halben Jahr hier!
Eine Weile sagte er gar nichts. Er dachte daran, daß es bei einer Weihnachtsmesse in San Marco gewesen war, als er, erst fünf Jahre alt, zum ersten Mal mit Alessandro gesungen hatte. Im Geiste sah er, wie die Flotte von Gondeln hinaus aufs Wasser fuhr, um die Reliquien auf San Giorgio zu vereh-ren. Carlo würde jetzt dabeisein. Er versuchte, diesen Gedanken aus seinem Kopf zu verbannen.
Da wurde ihm auf einmal klar, daß Domenico Neapel bald verlassen würde, um nach Rom zu gehen.
Dort würde er an Neujahr, zur Eröffnung des römischen Karnevals, am Teatro Argentina sein Debüt geben.
Was hatte Guido gerade zu ihm gesagt? Daß er singen würde.
Was würde er singen? Er murmelte eine Entschuldigung, und als Guido wiederholte, daß er im Weihnachtsoratorium ein Solo singen würde, schüttelte Tonio den Kopf.
»Das kann ich nicht«, sagte er. »Soweit bin ich noch nicht.«
»Wieso glaubst du eigentlich, mir sagen zu können, wann du soweit bist oder nicht?« fragte Guido ernst. »Natürlich bist du soweit. Ich würde dich nicht singen lassen, wenn es nicht so wäre.«
Tonio konnte das Bild der vielen Laternen, die auf der schwarzen Lagune tanzten, während die Flotte der Gondeln ihre weihnachtliche Überfahrt nach San Giorgio machte, nicht abschütteln.
»Maestro, unterwerfen sie mich dieser Prüfung bitte nicht«, murmelte er. Er bot seine ganzen guten venezianischen Ma-nieren auf. »Ich kann mich nicht auf meine Stimme verlassen, und wenn Sie mich zwingen, allein zu singen, dann werde ich Sie enttäuschen.«
Das wirkte bei Guido, der langsam ärgerlich wurde, Wunder.
»Tonio«, sagte er, »ich frage mich, ob ich dich vielleicht enttäuscht habe? Du bist soweit, um dieses Solo zu singen!«
Tonio gab keine Antwort. Er war viel zu überrascht, um etwas zu sagen, denn er konnte sich nicht daran erinnern, daß Guido ihn jemals zuvor beim Namen genannt hätte.
Als der Tag zu Ende ging, war er erschöpft. Guido hatte das Solo nicht mehr angesprochen, aber er hatte ihm mehrere weihnachtliche Stücke zum Singen gegeben, und das Solo war, soviel er wußte, eines davon. Seine Stimme kam ihm häßlich und plump vor.
Als er die Treppe zu seinem Zimmer hinaufstieg, war er mutlos und ärgerlich. Er wollte Domenico jetzt nicht sehen, aber unter der Zimmertür schimmerte ein schmaler Lichtstreifen hervor.
Domenico war in voller Montur, so als wolle er diesen Abend ausgehen.
»Ich bin müde«, sagte Tonio und drehte ihm, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, den Rücken zu. Oft hatten er und Domenico rasch noch miteinander geschlafen, bevor Domenico das Haus verließ, weil er irgendwo ein Engagement hatte.
Heute nacht aber hatte Tonio keine Lust dazu. Schon der Gedanke daran bedrückte ihn.
Er starrte seine Hände an. Die
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