Falsetto
betrachtete.
Bei jedem Vorhang, so schien es, sah Tonio zu Christinas Lo-ge auf und machte eine langsame, anmutige Verbeugung vor ihr. Und sie, über das Geländer gelehnt, strahlte eifrig klat-schend zu ihm herab.
»Aber wie geht es ihr?« drängte Tonio. »Paßt denn niemand auf sie auf? Hat die Contessa denn nicht...? Ich meine ...«
Guido wartete einen Augenblick, dann drehte er sich langsam um und ging zu seinem Schreibtisch. Er setzte sich, sah zum Fenster hinaus und betrachtete den sternenlosen Himmel, an dem sich bereits der erste Schimmer der aufgehenden Wintersonne zeigte.
»Hat sie denn keine Angehörigen, die sich dafür interessieren, was sie tut?« flüsterte Tonio. »Und was würden die wohl denken, wenn sie wüßten, daß sie ein solches Geschenk einem...« Doch wieder brach er ab, hielt das kleine Porträt jetzt in beiden Händen, so als wäre es höchst zerbrechlich.
Guido konnte nicht anders, er mußte lächeln.
»Tonio«, sagte er sanft, »sie ist eine unabhängige junge Frau und lebt ihr Leben so wie wir das unsere.« Mit noch weicherer Stimme fragte er dann: »Muß ich denn abermals derjenige sein, der dich weggibt?«
SECHSTER TEIL
1
Sobald Tonio sich zum letzten Mal mit einer Verbeugung für den Applaus bedankt hatte, bahnte er sich durch das Gedrän-ge, das hinter der Bühne herrschte, seinen Weg zu seiner Garderobe und zog sich um. Signora Bianchi beauftragte er, sie solle Raffaeles Kutscher mit höflichem Bedauern fortschik-ken.
Nach der zweiten Pause hatte Tonio seine Nachricht an Christina geschickt. Der Rest der Vorstellung war für ihn regelrecht zur Qual geworden.
Als schließlich der Schlußvorhang fiel, hatte Paolo ihm ihre Antwort in die Hand gedrückt.
Doch erst, als er wieder in seinen eigenen Kleidern steckte, riß er ihren Brief auf:
Piazzadi Spagna, Palazzo Sanfredo, mein Atelier im obersten Stockwerk.
Einen Moment lang war er wie betäubt. Guido schien gerade mit einer bedeutsamen Neuigkeit über eine Osterspielzeit in Florenz hereingekommen zu sein. Außerdem sagte er irgend etwas davon, daß sie in jedem größeren Haus in Italien spielen müßten, bevor sie ins Ausland gingen.
»Die Agenten aus Florenz wollen umgehend eine Antwort haben«, erklärte Guido, während er auf das Stück Papier in seiner Hand klopfte.
»Aber was ist denn los, warum brauchen sie die Antwort denn jetzt gleich?« murmelte Tonio.
Signora Bianchi kam herein und schloß mit einiger Mühe die Tür. »Sie müssen hinausgehen. Nur für ein paar Minuten«, sagte sie genau wie jeden Abend.
».. .weil es um dieses Ostern geht, vierzig Tage, nachdem die Spielzeit hier beendet ist. Tonio, Florenz!« sagte Guido.
»Gut, ja, ich meine, natürlich werden wir darüber sprechen, Guido«, stammelte Tonio, während er vergeblich versuchte, sich das Haar zu kämmen.
Hatte er ihre Nachricht zusammengefaltet und in seine Tasche gesteckt? Guido goß sich ein Glas Wein ein.
Paolo schlüpfte mit rotem Gesicht ins Zimmer und ließ sich mit übertriebener Erleichterung gegen die Tür fallen.
»Gehen Sie schon hinaus, Tonio, los, bringen Sie es hinter sich!« sagte Signora Bianchi. Dann drehte sie ihn herum und schob ihn zur Tür hinaus.
Warum war das so schwierig? Ihm schien, als wollten ihn alle berühren, ihn küssen, mit ihm reden, ihn bei der Hand nehmen und ihm sagen, wieviel es ihnen bedeutet hätte, ihn singen zu hören. Sie waren alle so bewegt, daß er sie nicht enttäuschen wollte. Je mehr er jedoch lächelte und nickte, desto mehr redeten sie. Als er schließlich wieder in die Garderobe zurückgekehrt war, war er so aufgeregt, daß er Guido einfach seinen Wein wegnahm und in einem Zug austrank.
Wie üblich wurden Blumen hereingebracht, große Buketts von Treibhausblumen, und Signora Bianchi flüsterte ihm ins Ohr, daß draußen die Männer des Grafen di Stefano warteten.
»Verdammt«, sagte er. Er betastete Christinas Nachricht in seiner Tasche. Sie trug keine Unterschrift, ganz plötzlich aber nahm er sie heraus, hielt sie an die Kerzenflamme und verbrannte sie. Guido, Paolo und Signora Bianchi starrten ihn an, als hätte er den Verstand verloren.
»Warten Sie einen Moment«, sagte Signora Bianchi, als er sich zum Gehen wandte. »Wohin wollen Sie? Der Maestro und ich müssen das wissen.«
»Was macht das für einen Unterschied!« entgegnete er ärgerlich, und als er das heimlichtuerische Lächeln auf Guidos Gesicht sah, die vorgetäuschte Überheblichkeit gegenüber seiner
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