Falsetto
die Augen offenzuhalten. Er hob sogar den Krug mit Wein und trank ihn leer, ohne dabei zu merken, was er tat. Er spürte, wie er nach vorn kippte und dabei einen dieser Männer herausfor-dernd anfunkelte, dann schlug er mit dem Hinterkopf gegen die Wand hinter sich.
Ein Plan wollte in seinem Bewußtsein Gestalt annehmen, blieb jedoch trotz aller Bemühungen verschwommen. Er hatte etwas damit zu tun, wie er am sichersten in den Palazzo Lisani kam.
Er sah einen jener Männer auf sich zukommen.
Er bewegte die Lippen und formte damit Worte, die er bei all dem Lärm um sich herum jedoch nicht hören konnte: »Mein Bruder will mich töten lassen.« Er sagte dies voller Erstaunen.
Erstaunen darüber, daß es tatsächlich so war, und Erstaunen darüber, daß er es bis zu eben diesem Augenblick nicht wirklich für möglich gehalten hatte!
Carlo? Carlo, der den verzweifelten Wunsch hatte, daß Tonio ihn verstand? Das war unbegreiflich. Aber es war so! Er mußte von hier fort.
Dieser Dämon von einem Bravo hatte sich jedoch ihm gegen-
über aufgepflanzt. Als er mit seinem riesigen Gesicht näher kam, füllte er mit seinen breiten Schultern Tonios gesamtes Blickfeld aus: »Kommen Sie nach Hause, Signore ...«, flüsterte er. »Ihr Bruder muß mit Ihnen reden.«
»Ooooh, nein.« Tonio schüttelte den Kopf.
Er hob den Arm, um Bettina heranzuwinken, spürte dabei, wie er nach oben gezogen wurde, als besäße er kein Gewicht.
Seine Füße stolperten über wirre Glieder, bis er sich plötzlich in der calle befand. Er schnappte nach Luft. Regen peitschte ihm ins Gesicht. Er versuchte, aufrecht stehenzubleiben, rutschte aber gegen die feuchte Mauer.
Als er jedoch vorsichtig den Kopf wandte, merkte er, daß ihn niemand hielt.
Er fing zu rennen an.
Er konnte in seinen Füßen einen Schmerz fühlen, der durch die Taubheit durchdrang, aber er wußte, daß er schnell voran-kam, ja, daß er in der Tat davonstürmte, auf den Nebel zu, in dem sich der Kanal verbarg. Schon sah er die Laternen an der Anlegestelle, da wurde er ins Dunkel zurückgerissen. Er wehrte sich, hatte sein Stilett gezogen und grub es in irgend etwas Weiches. Dann fiel es klappernd zu Boden. Er wurde festgehalten, jemand zwängte ihm den Mund auf.
Er krümmte und wand sich, versuchte sich loszureißen. Ein Keil wurde ihm zwischen die Zähne geschoben, und er spürte, während er würgte und nach Atem rang, den ersten Schluck Wein.
Einmal gelang es ihm noch, ihn mit einer krampfhaften Anstrengung, bei der seine Rippen schmerzten, wieder auszu-spucken. Dann aber kam mehr Wein, und er hatte das Gefühl, daß er, wenn es ihm nicht gelang, seinen Mund zu schließen oder sich zu befreien, verrückt werden würde. Oder ertrinken.
Guido schlief nicht. Er befand sich in jenem Stadium, das unter Umständen friedvoller ist als Schlaf, weil man es bewußt genießen kann. Er lag in einem winzigen, kargen Zimmer in der kleinen Stadt Flovigo auf dem Bett und starrte zum Fenster. Er hatte die hölzernen Fensterläden weit geöffnet. Drau-
ßen fiel der Frühlingsregen.
Am Himmel wurde es langsam heller. Mehrere Stunden lang hatte er nun überlegt und gleichzeitig auch wieder nicht überlegt. Im Grunde war ihm sein Kopf noch nie so leer und dennoch so voll erschienen.
Da waren ein paar Dinge, die er wußte, über die er aber nicht nachdenken wollte, obwohl sie ihm immer wieder in den Sinn kamen.
Er wußte zum Beispiel, daß die Inquisitoren des Staates in Venedig überall ihre Spione hatten. Sie wußten, wer am Freitag Fleisch aß und wer seine Frau schlug. Die Beamten der Inquisitoren konnten jederzeit jedermann heimlich gefangennehmen und ins Gefängnis werfen, wo er dann vielleicht mittels Gift, durch Strangulation oder durch Ertränken in der Nacht hingerichtet wurde.
Er wußte, daß die Treschi eine mächtige Familie waren. Er wußte, daß Tonio der begünstigte Sohn war.
Er wußte, daß die Gesetze vieler Städte in Italien die Kastration von Kindern verboten, es sei denn, es gab einen medizini-schen Grund dafür, es sei denn, die Eltern und der Junge stimmten zu.
Er wußte, daß das bei den Armen absolut keine Bedeutung hatte.
Er wußte, daß bei den Reichen diese Operation ein Ding der Unmöglichkeit war.
Er wußte, daß dieses Dorf, in dem er sich jetzt befand, immer noch auf venezianischem Staatsgebiet lag.
Und er wußte auch, daß alle Eunuchen, die er kannte, als kleine Jungen verschnitten worden waren, gleich nachdem die Hoden schwerer zu werden
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