Falsetto
in ein Leichentuch.
Er hatte es gewußt. Er hatte es gewußt, als ihn dieser Mann zum ersten Mal in die Arme geschlossen hatte, in seinen Träumen war es ihm klar gewesen. Er hatte es gewußt, als seine Mutter in ihrem abgedunkelten Zimmer umhergerannt war und dabei geflüstert hatte: »Schließ die Tür, schließ die Tür«, ja, er hatte es gewußt.
Es spielte keine Rolle, was hier geschah. Es spielte keine Rolle, wenn er sich umdrehte und ging, es war egal, was er sagte.
Es schien, als hätte er keinen eigenen Willen, keine Entschlußkraft mehr. Es spielte keine Rolle, daß irgendwo jemand dieser Traurigkeit eine Stimme verliehen hatte. Es war seine Mutter, die weinte.
»Merk dir, was ich dir sage«, flüsterte Carlo.
Er nahm vor ihm wieder schwach Gestalt an.
»Ach, und was willst du mir sagen?« seufzte Tonio. Dieser Mann ist mein Vater. Dieser Mann! »Drohst du mir mit dem Tod?« flüsterte Tonio. Er richtete sich auf und starrte dabei stur geradeaus. »Das also ist der erste Rat, den du mir gibst, wo wir beide uns erst seit so kurzer Zeit als Vater und Sohn gefunden haben!«
»Merk dir meinen Rat!« rief Carlo. »Sag, daß du nicht heiraten kannst. Sag, daß du die heiligen Weihen empfangen willst.
Sag, daß die Ärzte festgestellt haben, du seist mißgebildet, das ist mir egal! Aber sag es und unterwirf dich mir!«
»Das wäre aber gelogen«, antwortete Tonio. »Solche Un-wahrheiten kann ich nicht erzählen.« Er war sehr müde. Mein Vater. Dieser Gedanke löschte alle Vernunft aus. Irgendwo weit, weit außerhalb seiner Reichweite stand Andrea und wich immer weiter ins Chaos zurück. Tonio empfand eine bittere, schreckliche Enttäuschung darüber, daß er nicht Andreas Sohn war. Und dieser Mann, so rasend, so verzweifelt, stand vor ihm und flehte ihn an.
»Ich bin nicht als dein unehelicher Sohn geboren«, wehrte sich Tonio. Es war solch eine Qual, diese Worte auszusprechen.
»Ich kam als Andreas rechtmäßiger Sohn unter diesem Dach zur Welt. Und ich kann nichts tun, um das zu ändern, auch wenn du deine Gemeinheiten von einem Ende des Veneto bis zum anderen verbreitest. Ich bin Marc Antonio Treschi, Andrea hat mir diese Verantwortung übertragen, und ich werde nicht seinen Fluch aus dem Himmel auf mich laden, noch den Fluch jener in unserer Umgebung, die nicht einmal die Hälfte von alldem wissen!«
»Widersetze dich deinem Vater!« brüllte Carlo. »Sonst trifft dich mein Fluch!«
»Dann sei es so!« Tonios Stimme wurde lauter. Hier zu bleiben, fortzufahren, eine entschiedene Antwort zu geben, fiel ihm schwerer als alles, was er in seinem Leben je hatte tun müssen. »Ich kann mich diesem Haus, dieser Familie und dem Mann, der das alles wußte und der entschied, den Kurs für uns beide abzustecken, nicht widersetzen!«
»Oh, welche Loyalität.« Carlo schien zu seufzen und zu zittern, seine Zähne hatte er zu einem Lächeln entblößt. »Egal, wie groß dein Haß auf mich ist, wie stark dein Wille auch ist, mich zu zerstören, diesem Haus also würdest du dich niemals widersetzen!«
»Ich hasse dich nicht!« erklärte Tonio.
Es schien, als würde bei Carlo, überrumpelt durch die Heftigkeit dieser Äußerung, einen einzigen verzweifelten Augenblick lang ein Gefühl durchbrechen.
»Und ich habe dich niemals gehaßt«, stieß er hervor, als wür-de ihm das jetzt zum ersten Mal bewußt. »Marc Antonio«, sagte er und hatte Tonio, bevor dieser etwas dagegen tun konnte, an beiden Armen gefaßt. Sie standen sich jetzt so nahe gegenüber, daß sie sich hätten umarmen, küssen können.
Der Ausdruck auf Carlos Gesicht zeigte Erstaunen und beinahe Entsetzen. »Marc Antonio«, sagte er, wobei ihm die Stimme fast versagte, »ich habe dich niemals gehaßt...«
5
Guido war nicht ganz so betrunken, wie er es sein wollte. Der Lärm und das grelle Licht hier gefielen ihm nicht, doch er fühl-te sich hier sicher. Eben hatte er aus Neapel eine weitere Rate des ihm bewilligten Geldes erhalten und fragte sich, ob er nach Verona oder Padua aufbrechen sollte. Venedig war eine herrliche Stadt. Von allen Städten, die er auf seiner Wanderschaft kennengelernt hatte, war sie die einzige, die genauso war, wie man es ihm erzählt hatte. Dennoch empfand er sie als zu dicht bevölkert, zu dunkel, zu beengend. Abend für Abend kehrte er zur Piazza zurück, nur um diese riesige Flä-
che von Boden und Himmel zu sehen, und zu spüren, daß er frei atmen konnte.
Er sah, wie der Regen schräg unter die Arkaden geweht
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