Falsetto
Aufmerksamkeit zu. Sie waren alle in Latein abgefaßt, von Marc Antonio Treschi unterzeichnet und erklärten seine Absicht, sich zur Bewahrung seiner Stimme einer Kastration unterziehen zu wollen, wobei sie alle und jeden davon freisprachen, seine Entscheidung beeinflußt zu haben. Der Arzt blieb zu seinem eigenen Schutz ungenannt.
Das letzte Schriftstück war an seine Familie adressiert. Das Papier in Guidos Händen war nur eine Abschrift davon. Dort wurde eindeutig dargelegt, daß der Junge die Absicht hatte, im Conservatorio San Angelo in Neapel als Schüler von Maestro Guido Maffeo Gesang zu studieren.
Guido starrte die Unterlagen wie betäubt an.
»Aber das habe ich nicht veranlaßt!« sagte er.
Der Bravo grinste nur. »Draußen wartet eine Kutsche auf Sie, die Sie nach Neapel bringen wird. Es ist Geld genug da, um Pferde und Kutscher zu wechseln, wann immer Sie wollen«, sagte er. »Dies hier ist die Geldbörse des Jungen. Er ist, wie ich Ihnen schon gesagt habe, reich. Aber er wird keine weitere Zechine sehen, bevor er nicht in Ihrem Conservatorio eingeschrieben ist.«
»Seine Familie muß erfahren, daß ich nichts mit dieser Sache zu tun hatte!« stammelte Guido. »Die venezianische Regierung muß erfahren, daß ich nichts damit zu tun hatte.«
Der Schläger gab ein kurzes Lachen von sich. »Wer wird das schon glauben wollen, Maestro?«
Guido kehrte dem Mann plötzlich den Rücken zu. Mit wildem Blick starrte er auf die Dokumente.
Der Bravo stellte sich wie ein böser Engel neben ihm auf.
»Maestro«, sagte er, »an Ihrer Stelle würde ich nicht darauf warten, bis dieser Junge aufwacht. Das Opium, das man ihm gegeben hat, war sehr stark. Ich würde ihn jetzt nehmen und von hier verschwinden. Ich würde die Grenzen des venezianischen Staates so weit wie möglich und so schnell wie möglich hinter mir lassen. Und, Maestro, passen Sie gut auf den Jungen auf. Er ist der einzige, der Sie entlasten kann.«
Guido betrat das kleine Haus, in dem Tonio lag. Er sah das Blut auf Tonios Gesicht, Mund und Hals waren mit blauen Flecken übersät. Dann sah er, daß Tonio an Händen und Fü-
ßen mit einem groben Hanfseil gefesselt war. Sein Gesicht wirkte leblos.
Guido machte unwillkürlich einen Schritt rückwärts und stieß ein leises Stöhnen aus. Er verdrehte die Augen und entblößte die Zähne. Er starrte auf die blutbefleckte Matratze. Er starrte die Messer an, die im Stroh und auf dem schmutzigen Boden lagen wie anderer Abfall auch. Während er am ganzen Leib bebte, spürte er, wie das Stöhnen wieder aus ihm herausbrach.
Als er schließlich ruhig wurde, war er mit Tonio allein. Der Bravo war fort, die Tür stand offen und gab den Blick auf eine Stadt frei, die so still dalag, als wäre sie menschenleer.
Er ging näher an das Lager heran. Der Junge ähnelte so sehr einer Leiche, daß Guido sich zuerst gar nicht überwinden konnte, die Hand vor Tonios geöffneten Mund zu halten, um zu überprüfen, ob er noch atmete.
Aber der Junge lebte. Seine Haut war feucht und fiebrig.
Dann schlug Guido das zerfetzte Laken zurück, um sich die Verstümmelung anzusehen.
Der Hodensack war aufgeschlitzt, der Inhalt herausgeschnitten und die Wunde grob ausgebrannt worden. Aber es war eine kleine Wunde, die Operation war auf die sicherste Art durchgeführt worden, die zur Verfügung stand, und es gab keine Schwellung. Der Hodensack würde mit der Zeit zu einem Nichts zusammenschrumpfen.
Als er seine Hand zurückzog, zuckte Guido angesichts einer weiteren offensichtlichen Entdeckung zusammen.
Er starrte den schlaff daliegenden Penis des Jungen an und sah, daß er bereits die ersten Zoll der Männlichkeit gewonnen hatte.
Inmitten all des Schreckens, den er in diesem Zimmer angesichts des blutverschmierten, mit blauen Flecken übersäten Jungen, des höhnisch grinsenden Bravos draußen vor der offenen Tür empfand, packte ihn ein neues Entsetzen.
Vorsichtig berührte er das weiße Gesicht des schlafenden Jungen, forschte nach dem leisesten Anzeichen eines Bartes.
Aber er fand keines.
Auch die Brust war unbehaart. Während er die Augen schloß, rief sich Guido mit seinem unfehlbaren Gedächtnis wieder jene hohe klare Stimme in Erinnerung, die er unter den Kuppeln von San Marco gehört hatte.
Sie war rein, sie war vollkommen.
Dennoch lag hier der erste Beweis der Manneskraft.
Hinter ihm erschien der Bravo in der Tür. Seine wuchtigen Schultern füllten den Türrahmen aus, so daß das Licht erstarb und Guido nicht
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