Falsetto
begonnen hatten. Den Grund, weshalb es hier nun geschehen sollte, kannte er jedoch nicht, er wußte nicht, ob es wegen der Stimme oder aus gesundheit-lichen Gründen geschah.
Er wußte, daß Tonio Treschi fünfzehn war. Er wußte, daß die Stimme im allgemeinen drei Jahre später tiefer wird, und er wußte, daß jene Stimme, die er in der Kirche gehört hatte, immer noch unverändert und absolut rein war.
All das wußte er.
Dann schob er von Zeit zu Zeit all dieses Wissen von sich weg und gab sich Erinnerungen hin - wieder ohne sie zu analysieren -, Erinnerungen an jenes erste Mal, als er Tonio Treschis Stimme gehört hatte.
Ich lebe, dachte Tonio, ich befinde mich in einem Zimmer.
Leute bewegten sich, redeten. Und wenn er jetzt noch am Leben war, dann konnte er auch weiter am Leben bleiben. Er hatte recht gehabt: So etwas würde Carlo ihm nicht antun, nicht Carlo. Unter ungeheurer Anstrengung gelang es ihm, die Augen zu öffnen, dann spülte wieder Dunkelheit über ihn hinweg. Abermals öffnete er die Augen, sah Schatten über die Wände und die Decke gleiten, hörte, wie sich Leute unterhielten.
Eine Stimme kannte er. Es war Giovanni, der Bravo, der immer vor Carlos Tür stand. Er sagte gerade etwas in leisem, drohendem Ton.
Warum hatten sie ihn denn noch nicht umgebracht? Was ging hier vor? Er wagte nicht, sich zu bewegen, hatte aber seine Augen einen Spaltweit geöffnet. Er sah einen hageren, schmutzigen Mann, der eine Art Koffer in der Hand hielt und sagte:
»Das mache ich nicht! Der Junge ist zu alt!«
»Er ist nicht zu alt.« Giovanni, der Bravo, verlor langsam die Geduld. »Tun Sie, was Ihnen aufgetragen wurde, und machen Sie es ordentlich.«
Worüber redeten sie nur? Was sollte der Mann tun? Der Bravo namens Alonso stand links von ihm, dahinter war eine Tür zu sehen. Der hohlwangige Mann sagte jetzt: »Damit will ich nichts zu tun haben«, und begann, sich rückwärts auf die Tür zuzubewegen. »Ich bin kein Metzger, ich bin Chirurg...«
Giovanni hatte ihn jedoch grob gepackt und schubste ihn vorwärts. »Neiiin...«
Tonio setzte sich gerade in dem Augenblick auf, in dem Alonso die Hände ausstreckte, um ihn festzuhalten. Er riß ihn mit seinem Schwung nach vorn, so daß dieser wiederum den hageren Mann zur Seite stieß. Tonio begann um sich zu schlagen, wehrte sich mit Händen und Füßen, als man ihn vom Boden hochhob. Er sah, wie der Koffer aufsprang, sah die Messer herausfallen, hörte den hageren Mann ein verzweifeltes Gebet murmeln. Dann hatte er das Gesicht eines Mannes zwischen seinen Fingern. Er krallte sich hinein, während er dem Mann gleichzeitig mit der Faust in den Bauch schlug, auf ihn einprügelte. Ringsum gingen Gegenstände zu Bruch, Holz splitterte. Plötzlich hatte er sich befreit. Es war so unerwartet gekommen, daß er der Länge nach hinstürzte. Regen fiel auf ihn herab, er war entkommen, er rannte!
Feuchte Erde gab unter seinen Füßen nach, Felsen schnitten durch seine Stiefel, und einen Augenblick lang schien es, als könnte er gewinnen. Die Nacht würde ihn verschlucken, verbergen. Aber da hörte er sie schon mit schweren Schritten hinter sich herkommen.
Sie hatten ihn wieder ergriffen, er knurrte, fauchte, schrie. Sie trugen ihn in jenes Zimmer zurück, ein Mann drückte ihn mit seinem vollen Gewicht auf den Strohsack nieder.
Er grub seine Zähne in Muskeln und Haare, wand sich mit all seiner Kraft, als er spürte, wie man ihm die Beine auseinan-derzwang. Er hörte den Stoff seiner Hose reißen, noch bevor er die kalte Luft an seiner Blöße fühlte.
»NEIIIN!« Er brüllte es zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, dann riß sich das Brüllen von allen Wörtern los, wurde unmenschlich, ungeheuer, blendete ihn, machte ihn taub.
Mit dem ersten Schnitt des Messers wußte er, daß er den Kampf verloren hatte, und er wußte auch, was sie mit ihm taten.
Guido sah, daß der Himmel über der kleinen Stadt Flovigo langsam ein blasses Gelb annahm. Er lag da wie tot, sah zu, wie der Regen gerade soviel von diesem Licht einfing, daß er als sichtbarer Schleier über dem Feld hing, das sich vor dem Fenster erstreckte.
Es klopfte an der Tür. Er hatte nicht gedacht, daß ihn solche Erregung packen würde, als er aufstand, um zu öffnen. Drau-
ßen stand jener Mann, der ihn im Kaffeehaus in Venedig angesprochen hatte. Er drängte ihn ins Zimmer und öffnete wortlos ein in Leder gewickeltes Bündel, das mehrere Dokumente enthielt.
Guido wandte ihnen seine
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