Falsetto
wurde. Eine dunkle Gestalt tauchte in der Tür auf, blieb dort stehen, ging dann aber in den Raum hinein. Wieder wurde der Regen vom Wind hereingepeitscht. Fast konnte er ihn auf seinem warmen Gesicht spüren, auf seinen gefalteten Händen auf dem Tisch. Er leerte sein Glas. Er schloß die Augen.
Dann öffnete er sie unvermittelt wieder. Jemand hatte sich neben ihn gesetzt.
Als er sich langsam und vorsichtig umdrehte, sah er einen Mann mit einem gewöhnlichen und brutalen Gesicht, dessen Bart so nachlässig rasiert war, daß ein Fell aus bläulichen Stoppeln stehengeblieben war.
»Hat der Maestro aus Neapel gefunden, was er suchte?« fragte der Mann leise.
Guido ließ sich Zeit, bevor er antwortete. Er trank einen Schluck Weißwein, dann ließ er einen Schluck brühheißen Kaffee folgen.
»Ich kenne Sie nicht«, sagte er, wobei er die offene Tür ansah.
»Wie kommt es, daß Sie mich kennen?«
»Ich habe einen Schüler, der Sie interessieren wird. Er wünscht, von Ihnen unverzüglich nach Neapel gebracht zu werden.«
»Seien Sie sich nicht so sicher, daß er mich interessieren wird«, sagte Guido. »Und wer ist er, daß er mir befiehlt, ich solle ihn nach Neapel bringen?«
»Sie wären ein Narr, wenn Sie nicht interessiert wären«, sagte der Mann. Er war so nahe zu Guido gerückt, daß dieser seinen Atem spüren konnte. Und auch riechen.
Guido drehte mechanisch die Augen zur Seite, bis er den Mann anstarrte. »Kommen Sie auf den Punkt«, sagte er,
»oder verschwinden Sie.«
Der Mann zeigte ein kleines Lächeln, das sein Gesicht ent-stellte. »Sie sind mir vielleicht ein Eunuch«, murmelte er.
Guido schob seine Hand ganz langsam, aber auffällig unter seinen Umhang, bis sich seine Finger um den Griff seines Stiletts schlossen. Er lächelte.
»Hören Sie mir zu«, murmelte der Mann leise. »Aber wenn Sie jemals irgend jemandem erzählen, was ich Ihnen jetzt sage, dann wäre es besser für Sie, Sie hätten nie einen Fuß in diese Stadt gesetzt.« Er warf einen raschen Blick zur Tür, dann fuhr er fort. »Der Junge ist von hoher Geburt. Er wünscht, für seine Stimme ein großes Opfer darzubringen. Es gibt jedoch Menschen, die möglicherweise versuchen werden, ihn davon abzubringen. Es muß diskret und sehr schnell geschehen.
Südlich von Venedig gibt es eine Stadt namens Flovigo. Reisen Sie heute abend dorthin, gehen Sie ins Wirtshaus dort.
Der Junge wird zu Ihnen kommen.«
»Welcher Junge? Wer?« Guidos Augen wurden schmal. »Die Eltern müssen in einem solchen Fall ihre Zustimmung geben.
Die Inquisitoren des Staates würden -«
»Ich bin Venezianer.« Das Lächeln des Mannes blieb unver-
ändert. »Sie sind kein Venezianer. Bringen Sie den Jungen nach Neapel, das reicht.«
»Sagen Sie mir jetzt, wer dieser Junge ist!« Guidos Stimme klang drohend.
»Sie kennen ihn. Sie haben ihn heute nachmittag in San Marco gehört. Sie haben ihn mit seinen herumziehenden Sängern auf der Straße gehört.«
»Ich glaube Ihnen nicht!« flüsterte Guido.
Der Mann schob Guido eine lederne Börse zu. »Gehen Sie zu Ihrem Gasthaus«, sagte er. »Machen Sie sich unverzüglich zum Aufbruch bereit.«
In der Taverne erblickte Tonio die drei zum ersten Mal.
Er war sehr betrunken. Er war mit Bettina oben gewesen; als er dann ins rauchige Gästezimmer heruntergekommen war, hatte er sich auf eine Bank an der Wand fallen gelassen, un-fähig, noch einen Schritt weiter zu gehen. Er mußte mit Ernestino reden, mußte ihm erklären, daß er ihn und die anderen heute abend nicht begleiten konnte. Bei all dem Schrecklichen, was er erfahren hatte, konnte er nicht singen. Eine Musik, die dazu paßte, war noch nicht komponiert worden.
Als er in die schmutzige Düsternis spähte, kam ihm ein merkwürdiger Gedanke: Eigentlich hätte er inzwischen schon das Bewußtsein verloren haben müssen. Noch nie zuvor hatte er so viel getrunken und war dabei wach geblieben. Alles in diesem Zimmer flackerte, schwere Körper bewegten sich unter rußgeschwärzten Lampen. Der Humpen, der vor ihm stand, schwankte.
Er wollte gerade trinken, als er die Gesichter jener Männer entdeckte. Er machte einen nach dem anderen aus, und jeder, so schien es, starrte ihm aus einem anderen Winkel der Stube düster entgegen.
In dem Augenblick, in dem er diese drei Männer miteinander in Verbindung brachte und erkannte, wer und was sie waren, spürte er trotz seiner Trunkenheit Panik in sich aufsteigen.
Nichts veränderte sich in dem Zimmer. Er mühte sich ab,
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