Falsetto
merkte er, daß er alles durcheinanderbrachte.
Außerdem sah er, daß Tonio seine Serviette hingelegt hatte und vom Tisch aufgestanden war.
Wie immer waren sie für die Nacht mit den luxuriösesten Räumlichkeiten versorgt worden, die die Stadt zu bieten hatte
- in diesem Fall war es ein wohlhabendes Kloster, das große und erlesen möblierte Zimmer an Herren vermietete, die sich das leisten konnten.
Tonio hatte ihr privates Speisezimmer verlassen, wo die beiden Jungen immer noch am Tisch saßen und ihre Teller leer-kratzten, und war in den schmalen, von hohen Mauern umgebenen Garten hinausgegangen.
Lange Zeit saß Guido da und dachte nach. Als er schließlich die Jungen zu Bett gebracht und dafür gesorgt hatte, daß sie gut zugedeckt waren, dachte er immer noch nach.
Als er dann in den nächtlichen Garten hinaustrat, begriff er immer noch nicht, warum er so zornig war. Er wußte nur, daß er sich über diesen Jungen ärgerte, daß er ihm sein respektloses Starren, sein ewiges Schweigen übelnahm. Er versuchte sich ins Bewußtsein zu rufen, welch unvermeidliche Qual der Junge durchstand, welch unvermeidliche Angst.
Jedesmal aber, wenn sein Bewußtsein ihn zwang, zu fragen, was mit diesem Jungen jetzt gerade geschah, was er dachte, was er fühlte, sagte eine hartnäckige kleine Stimme in seinem Inneren: Ach, du bist doch schon immer ein Eunuch gewesen, du kannst es niemals nachfühlen. All das sagte die Stimme in einem spöttischen, überlegenen Ton.
Was immer der Grund war, er empfand Wut, als er in den Garten hinaustrat. Im Mondlicht sah er über einem muschelförmigen Brunnen eine riesige Statue und davor die schlanke, ganz aufrechte Gestalt Tonio Treschis.
Tonio Treschi starrte die nackte Brust des Gottes an, die breiten Hüften, die in einen lockeren Faltenwurf übergingen, unter dem sich dann ein kräftig bemuskeltes Bein zeigte, auf dem das volle Gewicht des Giganten ruhte.
Guido blickte von diesem monströsen Gott weg. Er sah, wie sich das Mondlicht im Wasser brach, dann bemerkte er aus dem Augenwinkel, daß der Junge sich zu ihm umgedreht hatte. Er spürte, wie dieser gierige Blick ihn unbarmherzig abta-stete.
»Warum starrst du mich so an!« wollte er plötzlich wissen.
Noch bevor er sich zurückhalten konnte, hatte sich seine Hand um den lockeren Stoff an Tonios Schulter geschlossen.
Er konnte spüren, wie erstaunt der Junge darüber war. Im Mondlicht war deutlich zu sehen, daß er sein Gesicht verzog, daß sein Mund erst schlaff wurde und dann stumm, benommen zu arbeiten begann. Die verhärteten Züge in seinem jungen Gesicht lösten sich in Hilflosigkeit auf, in absolute Reue.
Es schien, als wolle er irgendeine Verneinung stammeln. Er begann, brach ab und gab es dann kopfschüttelnd ganz auf.
Guido war ebenfalls hilflos. Er streckte abermals die Hand aus, so als wolle er den Jungen berühren, verharrte jedoch mitten in der Bewegung und beobachtete angsterfüllt, wie den Jungen alle Kraft zu verlassen schien. Der Junge hatte zu Boden geblickt. Er hatte die Hände erhoben und starrte jetzt seine geöffneten Handflächen an, zuerst die eine, dann die andere. Er streckte die Arme aus, als wolle er irgend etwas aus der Luft fangen, vielleicht aber auch, um seine Arme zu betrachten. Plötzlich war da ein Rasseln in seiner Kehle, ein halb ersticktes Stöhnen.
Sein Atem ging stoßweise, als er sich Guido zuwandte, so als wäre er ein stummes Tier, während seine Augen sich immer mehr weiteten, sein Blick immer verzweifelter wurde.
Und plötzlich begriff Guido alles.
Der Junge keuchte immer noch, starrte immer noch auf seine erhobenen Hände, dann plötzlich schlug er sich auf die Brust, und jenes halb erstickte Stöhnen wurde zu einem kehligen Schrei, der immer lauter wurde. Guido zog ihn an sich und hielt seinen steifen Körper mit aller Kraft fest, bis er plötzlich spürte, wie der Junge in seinen Armen schlaff und ruhig wurde.
Tonio, der so still an seiner Schulter lag, bevor er sich schweigend zu Bett hatte bringen lassen, hatte Guido ein einziges Wort ins Ohr geflüstert: »Monstrum.«
3
Am ersten Mai kamen sie in Neapel an, und selbst die lange Fahrt durch die grünen Weizenfelder hatte sie nicht auf diesen herrlichen Anblick vorbereiten können. Die große, sich unregelmäßig ausbreitende Stadt lag in Sonnenlicht getaucht da, ein Schwall pastellfarbener Mauern und knospender Dachgärten ergoß sich über den Hügel und umarmte dabei das Panorama der klaren blauen Bucht. Der Hafen
Weitere Kostenlose Bücher