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Falsetto

Falsetto

Titel: Falsetto Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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eine Komposition mehrstimmig zu setzen.
    Die Treppenstufen waren über viele Jahrhunderte hinweg von einer Unzahl von Füßen ausgetreten worden. Alles sah kahl und geschrubbt aus, was Guido noch nie zuvor aufgefallen war.
    Er konnte nicht ahnen, was Tonio dachte, auch wußte er nicht, daß dieser Junge in seinem ganzen Leben noch keinen einzigen Tag den Regeln oder der Disziplin irgendeiner Institution unterworfen gewesen war.
    Zudem waren Tonio Kinder fremd. Er starrte sie an, als wären sie ein ganz ungewöhnliches Phänomen.
    Hilflos hielt er an der Tür des langgestreckten Dormitoriums inne, in dem Guido als Junge geschlafen hatte, drehte sich dann durchaus bereitwillig um und ließ sich durch einen Korridor im Obergeschoß zu dem kleinen Zimmer mit Dachschräge entlangführen, das ihm gehören sollte.
    Tatsächlich hatte Guido einst selbst in dieser Kammer geschlafen.
    Die Fensterläden des Gaubenfensters öffneten sich nach innen und waren mit grünen Blättern und lieblichen, voll erblühten Rosen bemalt, während sich eine ähnliche Blumenborte oben an den Wänden entlangzog.
    Bunte Lackverzierungen bedeckten den Schreibtisch und den Sessel, ein dunkelroter kleiner Kabinettschrank mit vergoldeten Kanten stand bereit, um Tonios Besitztümer aufzunehmen.
    Der Junge ließ seinen Blick umherschweifen, sah zum offenen Fenster und entdeckte in der Ferne plötzlich wieder die bläuliche Rauchfahne des Berges. Er bewegte sich wie willenlos darauf zu.
    Eine Ewigkeit stand er da und starrte die Rauchfahne an, die in einer ganz geraden Linie zu den feinen, sich auflösenden Wolken hinaufstieg. Schließlich dreht er sich zu Guido um. In seinen Augen lag stummes Staunen, dann glitt sein Blick wieder über die Möblierung dieses kleinen Zimmers, und einen Moment lang schien es, als würde ihm das, was er sah, gefallen. Er drehte sich wieder zu dem Berg um.
    »Würdest du gerne den Vesuv besteigen?« fragte Guido.
    Tonio wandte sich mit einem so strahlenden Gesicht um, daß Guido verblüfft war. Plötzlich wirkte er wieder wie ein Junge, und die Freude stand ihm gut zu Gesicht.
    »Wenn du willst, dann steigen wir eines Tages dort hinauf«, sagte Guido.
    Und zum ersten Mal lächelte Tonio ihn an.
    Als Guido ihm jedoch erklärte, daß er sich mit den venezianischen Abgeordneten treffen müsse, sah er entsetzt, wie das Leuchten aus dem Gesicht des Jungen verschwand.

    »Ich wünsche mich nicht mit ihnen zu treffen«, flüsterte Tonio.
    »Es ist unausweichlich«, antwortete Guido.

    Als sie sich in Maestro Cavallas großem Arbeitszimmer im Erdgeschoß versammelten, verstand Guido, warum Tonio so zurückhaltend war.
    Diese beiden Venezianer, die der Junge offensichtlich nicht kannte, betraten den Raum mit dem ganzen Prunk, der für das letzte Jahrhundert typisch war. Besser gesagt, sie ähnelten mit ihren großen Perücken und in ihren Röcken zwei Galeonen, die mit geblähten Segeln in einen engen Hafen einfahren.
    Sie musterten Tonio mit unverhüllter Verachtung. Ihre Fragen waren hastig, feindselig.
    Tonios Blick war ein klein wenig unstet, er war totenbleich geworden, und seine Hände, die er hinter dem Rücken verschränkt hatte, arbeiteten krampfhaft. Ja, erwiderte er, er hätte sich ganz allein für diesen Lebensweg entschieden, nein, niemand aus dem Conservatorio hätte ihn beeinflußt, ja, die Operation sei bereits durchgeführt worden, nein, er würde sich keiner Untersuchung unterziehen, und nein, er könne den Namen des Arztes nicht preisgeben. Noch einmal, nein, niemand aus diesem Conservatorio hatte irgend etwas von seinen Plänen gewußt...
    An dieser Stelle fiel ihnen Maestro Cavalla in venezianischem Dialekt, den er ebenso sicher und schnell sprach wie Tonio, wütend ins Wort und erklärte, daß dieses Conservatorio aus Musikern, nicht aus Chirurgen bestünde. Hier wäre noch kein einziger Junge operiert worden! »Damit haben wir nichts zu tun.«
    Die Venezianer grinsten angesichts dieser Behauptung höhnisch. Auch Guido konnte sich ein Hohnlächeln gerade noch verkneifen.
    Das Verhör war offensichtlich vorbei. Jetzt legte sich ein unbehagliches Schweigen über alle Anwesenden. Es hatte den Anschein, als versuche der ältere der beiden Venezianer irgendein verborgenes Gefühl niederzukämpfen.
    Schließlich räusperte er sich und fragte mit leiser, beinahe heiserer Stimme:

    »Marc Antonio, steckt da noch etwas anderes dahinter?«
    Tonio war überrumpelt. Er preßte die Lippen aufeinander, bis sie weiß

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