Falsetto
sah zu ihm hinunter. Der Blick seiner sanften schwarzen Augen war auf Guido geheftet, als dieser die Stufen zu ihm hochstieg.
»Ich bin Ihnen schon einmal begegnet, nicht wahr?« fragte Tonio leise. »Sie sind der Maestro, dem ich in San Marco vor-gesungen habe!«
Guido nickte. Er musterte das weiße Gesicht, die feuchten Lippen, die Augen, die immer noch einen fiebrigen Glanz hatten.
»Sie haben geweint«, sagte Tonio, »haben Sie um mich geweint?«
Einen Augenblick schwieg Guido. Er spürte wie üblich Zorn in sich aufsteigen. Der Zorn rötete sein Gesicht und ließ seine Mundwinkel zucken, dann plötzlich hörte er eine innere Stimme ganz deutlich sagen: Ja, es stimmte, er hatte um diesen Jungen geweint.
Aber er schluckte und sagte nichts. Er starrte Tonio in ver-drossenem Erstaunen an.
Da nahm das Gesicht des Jungen, das einen Augenblick zuvor noch ausdruckslos und beinahe engelhaft gewesen war, einen bitteren Ausdruck an, der ebenso kalt wie erschreckend wirkte. In seinen Augen lag ein drohendes, böses Glitzern, das Guido dazu veranlaßte, langsam den Blick abzuwenden.
»Wir müssen fort von hier«, flüsterte der Junge. »Wir müssen Weiterreisen. Es gibt da ein paar Dinge, um die ich mich kümmern muß.«
Guido sah, wie er sich umdrehte und ins Zimmer ging. Sämtliche Dokumente waren auf dem Tisch ausgebreitet. Der Junge sammelte sie jetzt ein und gab sie dem Maestro zurück.
»Wer waren die Männer, die das getan haben?« wollte Guido plötzlich wissen.
Tonio legte sich seinen Mantel um die Schultern. Er blickte auf, als wäre er bereits tief in Gedanken.
»Narren«, antwortete er, »die dem Befehl eines Feiglings ge-horchten!«
2
Bis sie Bologna, die große, geschäftige Hauptstadt des Nordens, erreichten, sprach Tonio kaum ein Wort.
Falls er Beschwerden hatte, dann war ihm das nicht anzumer-ken, und als Guido ihn drängte, einen Arzt aufzusuchen, da immer noch Infektionsgefahr bestand, drehte er entschlossen den Kopf weg.
Sein Gesicht schien wie verwandelt. Es war länger geworden, die Linie des Mundes verhärtet. Die Augen besaßen weiterhin jenes fiebrige Glitzern. Obwohl Tonio sie weit geöffnet hatte, schien er gegenüber dem sich entfaltenden Frühling in der italienischen Landschaft blind zu sein.
Auch die Brunnen, Paläste und die wimmelnden Straßen schien er nicht wahrzunehmen.
Nachdem er darauf bestanden hatte, ein juwelenbesetztes Schwert, ein Stilett und zwei Pistolen mit Perlmuttgriff zu erwerben, was ein recht extravaganter Wunsch war, kaufte sich Tonio noch neue Kleidung und einen dazu passenden Umhang. Dann bat er Guido höflich, einen Rechtsanwalt für ihn ausfindig zu machen, der sich, was die Geschäftsangelegen-heiten von Musikern betraf, gut auskannte.
Das war in Bologna kein Problem. In den Cafés dieser Stadt wimmelte es von Sängern und Musikern aus ganz Europa, die eigens deshalb hierhergekommen waren, um sich mit Agenten und Impresarios zu treffen und auf diese Weise in der kommenden Saison vielleicht an ein Engagement heranzukommen. Nachdem sie ein wenig herumgefragt hatten, saßen sie bald in der Kanzlei eines qualifizierten Anwaltes.
Tonio begann einen Brief an das Oberste Tribunal in Venedig zu diktieren. Er hätte seiner Stimme das erwähnte Opfer bereits dargebracht, erklärte er, und es sei unbedingt erforderlich, daß niemand in Venedig für sein Handeln beschuldigt werde.
Nachdem er seine früheren Lehrer und alle, die ihn in seiner Liebe zur Musik ermutigt hatten, entlastet hatte, sprach er auch Guido Maffeo und all jene, die mit dem Conservatorio San Angelo in Verbindung standen und von seinem Vorhaben erst erfahren hatten, nachdem es in die Tat umgesetzt war, von jeglicher Schuld frei.
An vorderster Stelle war ihm jedoch daran gelegen, daß seinem Bruder keine Schuld zugewiesen wurde.
»Da dieser Mann nunmehr der einzige überlebende Erbe unseres verstorbenen Vaters ist, da er des weiteren körperlich gesund ist und in der Lage zu heiraten, ist es unverzichtbar, daß er von jeglicher Verantwortung für mein Handeln losge-sprochen wird, damit er seinen Pflichten gegenüber einer zu-künftigen Frau und Kindern nachkommen kann«, sagte Tonio.
Dann unterzeichnete er den Brief. Der Anwalt, der angesichts dieses merkwürdigen Inhalts nicht mit der Wimper zuckte, un-terschrieb als Zeuge, ebenso tat das Guido.
Eine Abschrift davon ging an Catrina Lisani, zusammen mit der Bitte, daß Tonios gesamtes Eigentum unverzüglich nach Neapel überstellt
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