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Falsetto

Falsetto

Titel: Falsetto Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Gestalt begann mit langsamen, rhythmischen Schritten auf ihn zuzugehen. Es wirkte schaurig, wie zielstrebig sie auf ihn zukam. Tonio sah mit einem Gefühl unbehaglicher Neugierde zu, bis ihm dieser Mann von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand.
    »Möchtest du sehen, was du mit deinem Starrsinn angerichtet hast? Möchtest du es mit eigenen Augen sehen?«
    Die Hand des Mannes schloß sich um sein Handgelenk und riß ihn vorwärts. Tonio wehrte sich, wurde aber weitergezerrt.
    »Wohin bringen Sie mich?« wollte er wissen. »Was soll das?«
    Schweigen.
    Er ging schnell, ignorierte dabei den Schmerz in seinem Handgelenk und hatte den Blick auf das Profil des Maestro geheftet.
    »Lassen Sie mich los!« sagte er, als sie die letzte Tür im Flur fast erreicht hatten. Der Maestro gab ihm jedoch einen heftigen Ruck und stieß ihn in das erleuchtete Zimmer.
    Einen Augenblick lang war er geblendet. Er hob die Hand, um seine Augen vor dem grellen Lichtschein abzuschirmen. Jetzt erkannte er eine Reihe von Betten und sah an der Wand ein riesiges Kruzifix hängen. Neben jedem Bett stand ein Schränkchen. Der Boden war kahl. In dem langgestreckten Raum, in dem rechts hinten zwei Jungen lagen, die beide zu schlafen schienen, hing der Geruch von Krankheit.
    In einem Bett ihnen gegenüber zur Linken lag noch eine weitere Gestalt, die unter der Bettdecke groß und wuchtig wirkte.
    Das Gesicht war so reglos wie das eines Toten.
    Tonio war plötzlich nicht mehr fähig, sich zu rühren. Der Maestro di Cappella gab ihm einen heftigen Stoß zwischen die Schulterblätter. Da Tonio sich immer noch nicht rührte, zerrte er ihn zum Fußende des Bettes.
    Es war Guido.
    Sein Haar war glatt aus dem Gesicht gestrichen, so als wäre es klatschnaß, und sein Gesicht war selbst in diesem matten Licht totenbleich.
    Tonio öffnete den Mund, um etwas zu sagen, preßte dann aber die Lippen aufeinander. Er merkte, daß er zitterte, und empfand ein Gefühl der Leichtigkeit in seinem Kopf. Er fühlte sich leichter und leichter. Es war, als wäre er plötzlich schwerelos und würde gleich von einem Windstoß aus diesem Zimmer getragen. Abermals versuchte er etwas zu sagen. Er spürte, wie sich sein Mund öffnete, spürte, wie er damit ein Wort formte, während das Bild der totengleichen Gestalt vor seinen Augen verschwamm wie hinter einer regennassen Scheibe.
    Überall um ihn herum waren Gesichter. Es waren die Gesichter jener jungen Lehrer, die ihn durch so viele Unterrichtsstunden geschleift hatten. Sie starrten ihn stumm und vorwurfsvoll an. Plötzlich hörte er ein schreckliches Stöhnen, ein unmenschliches Stöhnen, und erkannte, daß er selbst es war, der da gestöhnt hatte.
    »Maestro«, stammelte er. Er hatte einen galligen Geschmack im Mund. Dann offenbarte sich vor seinen Augen ein kleines Wunder. Die Gestalt in dem Bett war gar nicht tot. Die Augen bewegten sich unter den Lidern, und es war zu sehen, wie sich die Brust beim Atmen ganz leicht hob und senkte.
    Tonio hatte gar nicht gemerkt, daß er über das Bett gebeugt dastand. Wenn er gewollt hätte, dann hätte er das Gesicht des Maestro berühren können. Niemand würde es verhindern. Niemand würde den Maestro schützen, und abermals sagte er dieses eine Wort. Die Augenlider klappten nach oben, und die riesigen braunen Augen starrten ihn blind an. Dann schlossen sie sich langsam wieder.
    Grobe Hände packten Tonio. Sie schleiften ihn den Korridor entlang und in die Eingangshalle. Der Maestro di Cappella verfluchte ihn.
    »Es waren die Fischer, die ihn gesehen haben. Sie sahen im Mondlicht, wie er aufs offene Meer hinausschwamm, und wenn der Mond nicht geschienen hätte, wenn sie ihn nicht gesehen hätten ...«
    Die Augen des Mannes schimmerten feucht, sein schwerer Unterkiefer bebte.
    »Dieser Junge, den ich aufgezogen habe, als wäre er mein eigenes Kind, konnte singen wie ein Engel. Zweimal habe ich ihn dem Schlund des Todes entrissen. Einmal, als er seine Stimme verlor und nichts und niemand sie ihm zurückgeben konnte, und jetzt wieder, deinetwegen!«
    Er drängte Tonio zum Ausgang und hielt ihn dort fest, spähte in die Dunkelheit, als müsse er Tonios Gesicht sehen.
    »Glaubst du denn, ich weiß nicht, was man dir angetan hat?
    Glaubst du denn, ich habe so etwas nicht immer wieder gesehen?
    Aber natürlich ist es eine große Tragödie, daß man das ausgerechnet dir, einem venezianischen Prinzen, angetan hat! Reich warst du, hübsch, standest kurz davor, ein Mann zu werden, und hattest

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