Falsetto
über der Schulter, die rechte Hand ruhte auf dem Schwert-knauf, so als wisse er genau, wohin er gehen sollte, was er tun sollte, was aus ihm werden sollte.
Doch er war vom Schmerz wie betäubt. Wie ein heftiger Stoß eisigen Windes hatte der Schmerz seine Haut erstarren lassen, so daß er sich jeder Dimension seines Körpers bewußt war: kaltes Gesicht, kalte Hände, kalte Gliedmaßen, die sich gedankenlos aufs Meer und den Molo zubewegten, der von Kutschen und davor hergaloppierenden, federgeschmückten Pferden donnernd widerhallte.
Hier und da durchlief ihn ein heftiges Zittern, ließ ihn anhalten, drohte, ihm den Boden unter den Füßen zu entziehen, so daß er desorientiert innehielt, während sein unbewußtes Stöhnen in der Menge unterging, die sich überall drängte und ihn vorwärtsstieß.
Er schob sich zwischen Scharen von Hausierern und Straßen-verkäufern hindurch, Männern, die Fruchtgetränke und Weiß-
wein anboten, herumziehenden Musikanten und schönen Huren, die ihn streiften und deren Lachen wie der Ton Hunderter von Glöckchen klang. Alle benahmen sich, als wäre es heller Tag und als müßten sie, bevor dieser Vulkan schließlich ausbrach und alle unter seiner Asche begrub, leben, leben, leben, so als gäbe es kein Nachher.
Aber der Vulkan sollte in dieser Nacht niemanden unter seiner Asche begraben. Er brüllte und spie lediglich heißes Gestein und Dampf in den wolkenlosen Himmel, von dem hell der Mond herabschien und die Menschen, die in der warmen See badeten und am Strand spielten, in ein wunderbar glänzendes Licht tauchte.
Dies hier war nur Neapel, dies hier war nur das Paradies, dies hier waren Erde, Himmel und Meer, Gott und Mensch, aber nichts davon, nichts davon vermochte Tonio zu berühren.
Nichts vermochte ihn zu berühren. Er spürte nur diesen Schmerz, diesen Schmerz, der wie Eis seine Haut bis auf die Knochen erstarren ließ und ihn wie ein Panzer umschloß, so daß seine Seele verdorrt und versiegelt in seinem Inneren lag.
Als er schließlich in den Ufersand stolperte, ins Wasser des Mittelmeeres, brach er zusammen, krümmte sich wie unter einem letzten tödlichen Schlag und spürte, wie das Wasser ihn warm umspülte.
Es füllte seine Stiefel. Er bespritzte sich damit das Gesicht, dann hörte er durch das Klatschen der Wellen hindurch in der geheimen Kammer seiner Ohren sein eigenes Weinen.
Er war dort, am schäumenden Saum des Meeres, und starrte hin und wieder zu den dahinrollenden vergoldeten Kutschen zurück, zu den Lakaien, die wie Gespenster über die Steine jagten, während ihre Füße kaum die Erde berührten, zu den Pferden, deren Geschirr mit klingelnden Glöckchen, Federbü-
schen und frischen Blumen geschmückt war. Da löste sich aus diesem Verkehrsstrom, der sich von einem Ende der Stadt zum anderen hinzog, plötzlich eine Kalesche und kam auf ihn zugeschaukelt. Der Kutscher sprang vom Bock, packte Tonio am Umhang, rüttelte ihn voller Besorgnis und bot ihm wild ge-stikulierend den kleinen gepolsterten Sitzplatz in seiner Kutsche an.
Tonio starrte ihn lange an. Das neapolitanische Kauderwelsch versetzte ihn in leises Erstaunen. Die See umspülte seine Fü-
ße. Der Mann zog ihn auf den trockenen Strand zurück und zeigte besorgt auf Tonios feine Kleidung, den Sand, der an seiner Hose hing, die Wassertropfen, die auf seinem Spitzenhemd schimmerten.
Tonio fing plötzlich zu lachen an. Dann richtete er sich auf und sagte, das Brüllen der See und den Lärm des Verkehrs übertönend, in neapolitanischem Dialekt, von dem er ein paar Brocken beherrschte:
»Bringen Sie mich auf den Berg hinauf.«
Der Mann wich zurück. Jetzt? Zu dieser Stunde? Es wäre am besten, ihn bei Tag zu besteigen, wenn...
Tonio schüttelte den Kopf. Er holte zwei Goldmünzen aus seiner Börse und drückte sie dem Mann in die Hand. Auf seinem Gesicht lag dabei das gespenstische Lächeln eines Menschen, der ganz genau weiß, daß er alles bekommt, was er will. Er sagte:
»Bringen Sie mich jetzt so hoch es geht auf den Berg hinauf.«
Durch die Randgebiete der Stadt kamen sie rasch voran, aber es war noch ein gutes Stück Weg, bis sie den Berg erreicht hatten. Obstgärten und Olivenhaine lagen an seinen sanft an-steigenden Hängen im Mondlicht ausgebreitet da. Während sie den Berg hinauffuhren, wurde das Grollen des Vulkans beständig lauter.
Tonio konnte bereits die Asche riechen. Er konnte sie auf seinem Gesicht und in seinen Lungen spüren. Von Husten geschüttelt, bedeckte
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