Falsetto
dir also Tränen in die Augen, nicht wahr? Sag es noch einmal, ich will es hören.«
»Lassen Sie mich in Ruhe!«
»Ich werde dich nicht in Ruhe lassen, ich werde dich niemals in Ruhe lassen, nicht, solange du nicht singst! Glaubst du denn, ich würde nicht verstehen, was dich davon abhält? Gütiger Himmel, bist du denn wirklich so dumm und erkennst nicht, daß ich mein Leben riskiert habe, um dich hierherzubringen, obwohl es für mich besser gewesen wäre, ich hätte mich vor dir und deinen Peinigern aus dem Staub gemacht? Dennoch habe ich dich aus dem Veneto herausgeholt, ich habe dich hierhergebracht, obwohl die Spione deiner Regierung ihre Bravos hätten schicken können, um draußen auf der Straße über mich herzufallen.«
»Warum haben Sie es dann getan? Ich habe Sie nicht darum gebeten! Was wollen Sie überhaupt von mir?«
Da schlug Guido zu. Bevor er sich zurückhalten konnte, hatte er Tonio eine so kräftige Ohrfeige verpaßt, daß dieser rück-wärts taumelte und sich dabei an den Kopf griff, als könne er nichts mehr sehen. Guido schlug abermals zu, dann packte er Tonio mit beiden Händen und stieß ihn mit dem Kopf gegen die Wand.
Tonio gab ein kurzes, kehliges Keuchen von sich. Wieder hatte Guido ihn gepackt und zerrte an ihm, als wolle er ihm den Kopf abreißen.
Dann wich Guido zurück, umklammerte dabei mit der rechten Hand sein linkes Handgelenk, wie um sich davon abzuhalten, Tonio wieder zu schlagen. Er hatte Tonio jetzt den Rücken zugekehrt, stand leicht vornübergebeugt da, so als versuche er, sich wieder zu fangen.
Tonio, der sich selbst haßte, konnte die Tränen nicht zurückhalten. Schließlich zog er mit langsamer Resignation sein Taschentuch hervor und wischte sie mit einer groben Geste weg.
»Also gut«, war Guidos Stimme kaum hörbar über seine Schulter hinweg zu vernehmen. »Setz dich wieder dorthin und paß auf.«
Die Nachmittagssonne brannte heiß auf den Steinboden und die Zimmerwand. Tonio rückte die Bank so, daß er in der Sonne sitzen konnte, dann lehnte er sich zurück und schloß die Augen.
Der erste Schüler war der kleine Paolo, dessen kräftige Stimme den Raum erfüllte wie eine helle, goldene Glocke. Mit Leichtigkeit turnte er die Arpeggios hinauf und hinunter, und während er die Töne anschwellen ließ, legte er etwas in seinen Gesang, das beinahe Freude zu sein schien.
Tonio öffnete die Augen und sah den Hinterkopf des Jungen mit seinem braunen Haar. Während er zuhörte, begann er langsam einzuschlafen. Er empfand eine unbestimmte Überraschung angesichts Guidos Ermahnungen und begriff genau, was der Junge falsch machte. Es war doch falsch? Gerade sagte Guido, ich kann deinen Atem hören, ich kann ihn sehen.
Jetzt mach das Ganze noch einmal, aber langsamer, und stoß deinen Atem nicht so heftig aus, und diesmal... diesmal...
diesmal... die kleine Stimme hob und senkte sich, lange, klare Töne reihten sich aneinander...
Als Tonio wieder erwachte, befand sich ein anderes, ein älteres Kind im Raum. Das war eine Kastratenstimme, oder? Sie war ein kleines bißchen üppiger, vielleicht auch härter als die eines Jungen. Guido war zornig. Er knallte das Fenster zu.
Der Junge war jetzt verschwunden, Tonio rieb sich die Augen.
War es kühler geworden? Die Sonne war weg, dort wo er saß, war es jedoch immer noch angenehm warm. Am Fenstersims dieses tief eingeschnittenen Fensters im ersten Stock rankte sich der wuchernde Wein mit seinen üppigen weißen Blüten.
Er stand auf. Schmerz schoß ihm plötzlich durch den Rücken.
Was machte Guido da am Fenster? Er konnte nicht einmal seinen Kopf sehen, lediglich seine gebeugten Schultern und jenseits davon irgendeine unbestimmte Bewegung unten im Garten, Kinder, die rannten, herumschrien.
Er drehte sich zu Tonio um. Vor dem hellen Hintergrund des Klostergartens mit seinen Orangenbäumen, die noch von der Sonne beschienen waren, wirkte sein Gesicht dunkel. »Wenn du deine Absicht nicht änderst«, begann er, »dann wird dich der Maestro di Cappella in einer Woche fortschicken.« Seine Stimme war so leise und so heiser, daß Tonio sie nicht als Guidos Stimme erkannt hätte, wenn er ihn nicht selbst vor sich gesehen hätte. »Ich kann es nicht verhindern. Ich habe alles getan, was ich konnte.«
Tonio starrte ihn ein wenig erstaunt an. Er sah, daß diese aus-drucksvollen Gesichtszüge, in denen so oft nichts als purer Zorn lag, von irgendeiner schrecklichen Niederlage, die er nicht begriff, weich geworden waren. Er
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