Falsetto
wollte fragen: Aber warum spielt das für dich eine Rolle, warum mußt du dich um mich kümmern? Warum hast du dich in Ferrara um mich ge-kümmert? Warum kümmerst du dich jetzt um mich? Er kam sich so hilflos vor wie damals in jener Nacht in Rom in dem kleinen Klostergarten, als dieser Mann ihn wütend gefragt hatte. »Warum starrst du mich so an?«
Er schüttelte den Kopf, er versuchte etwas zu sagen, aber er brachte kein Wort heraus. Er wollte anführen, daß er jedes andere Fach studiert hatte, daß er sich an Regeln gehalten hatte, die er als erdrückend und unbarmherzig empfand. Warum also, warum... Aber er wußte, warum. Sie forderten von ihm lediglich, zu sein, was er war! Und sie würden sich mit nichts Geringerem zufriedengeben.
»Maestro!« flüsterte er. Die Worte schienen ihm im Hals zu vertrocknen. »Verlangen Sie das nicht von mir. Es ist meine Stimme, ich kann sie Ihnen nicht abtreten. Sie gehört Ihnen nicht, ganz gleich, wie lange und wie weit Sie gereist sind, um sie hierherzuholen, ganz gleich, was Sie in Venedig ertragen haben, um sie hierherzubringen und sie für Ihre eigenen Zwecke zu verwenden! Sie gehört mir, und ich kann nicht singen. Ich kann es nicht! Begreifen Sie denn nicht, daß das, was Sie von mir verlangen, unmöglich ist!
Ich werde niemals wieder singen, für Sie nicht, für mich nicht, für niemanden!«
Im Zimmer war es dunkel, obwohl der Himmel draußen über den höchsten Giebeln des Klosterbaus gleichmäßig purpurn war. Schatten lagen auf dem vierstöckigen Gebäude und fielen in den Garten, wo man nur hin und wieder ein paar Umrisse erkennen konnte, Zweige, schwer von Orangen, und Lilien, die in der Dunkelheit glänzten wie Wachskerzen. Hier und dort sah man hinter den Fenstern Kerzen schimmern. Aus allen Winkeln und Ecken, aus allen Stockwerken ertönten die spät-nächtlichen Klänge der fortgeschrittenen Musiker, die auf ihren Instrumenten rhythmischere, zusammenhängendere Melodien spielten als die Anfänger.
Es war kein Mißklang. Es war lediglich ein großes Summen zu hören, so als wäre dieses Gebäude ein lebendiges Wesen, das vor sich hinsummte. Tonio überkam ein merkwürdiges Gefühl des Friedens.
War er der Wut und Bitterkeit so überdrüssig geworden, daß er diesen Gefühlen erlaubt hatte, sich für eine Weile fortzu-stehlen? War das möglich? Er hatte gesagt: Gib mir nur diesen einen Augenblick! Er dachte nicht an Venedig, er dachte nicht an Carlo, er stöberte nicht in allen Winkeln seines Ge-dächtnisses, wo diese Gedanken lauerten. Statt dessen war sein Gedächtnis lediglich eine Abfolge leerer Zimmer.
Er verspürte Frieden an diesem Ort, einem Ort, der ihm, hätte er die ganze Zeit so empfunden, wunderschön vorgekommen wäre.
Ja, laß los, nur für den Augenblick.
Stell dir vor, wenn du willst, das Leben wäre immer noch er-träglich, stell dir vor, es wäre sogar - nun, schön. Stell dir vor, daß du dich, wenn du wolltest, an dieses Instrument, das immer noch aufgeklappt dasteht, setzen könntest und daß du, wenn du wolltest, die Finger auf die Tasten legen, daß du singen könntest. Du könntest von der Traurigkeit singen, du könntest vom Schmerz singen, von unaussprechlichem Schmerz, aber du könntest singen. Du könntest all das tun, was du tun möchtest, weil das, was dich daran gehindert hat, von dir abgefallen ist wie Schuppen von einem Körper, der in Wirklichkeit menschlich ist, aber durch ein unmenschliches Unrecht ein monströses Aussehen bekommen hat. Jetzt aber ist er frei, zu sich selbst zurückzukehren.
Er lag mit offenen Augen auf der schmalen Bank, auf der sich auch Guido in den Pausen zwischen seinen anstrengenden Unterrichtsstunden manchmal ausruhte, und dachte, ja, stell dir all das vor, solange du kannst.
Der Himmel wurde dunkler. Der Garten veränderte sich. Der Orangenbaum jenseits des Fensterbogens, der vorhin voller Schatten gewesen war, hatte jetzt seine Form verloren. Vom Brunnen war nichts mehr zu sehen, nichts mehr von den wei-
ßen Lilien. Allein die Lichter in den Fenstern auf der anderen Seite des Hofes besaßen jetzt noch Klarheit, waren wie Leuchtfeuer in der Dunkelheit.
Er lag still da, wunderte sich darüber, daß man ihm erlaubte, hier zu bleiben, wunderte sich darüber, daß man ihm erlaubte, in diesem leeren Zimmer in solch einen tiefen, traumlosen Schlaf zu fallen.
Langsam nahm bei ihm ein Gedanke Gestalt an: Er könnte, da Fenster und Türen geschlossen waren, einfach zum Cembalo gehen und seine
Weitere Kostenlose Bücher