Falsetto
ein Leben vor dir, das eine einzige Abfolge von Vergnügungen gewesen wäre, die du dir nach Belieben wie Früchte von den Bäumen hättest pflücken können.
Oh, welche Tragödie, welche Tragödie!« Er spuckte die Worte förmlich aus. »Und was war es für ihn? Und für all die anderen hier? Sind sie doch nur gewöhnliche Monstren, die in der Kindheit schon von dem abgeschnitten wurden, was zu beginnen gar nicht wert war? So denkst du doch?
Aber du, was sollte aus dir werden? Ein einherstolzierender Pfau auf dem Broglio dieser eitlen und herrischen Stadt, die bis ins Mark verfault ist? Einer Regierung aus Perücken und Roben, die vor dem Spiegel auf und ab marschiert und ganz verliebt in das ist, was sie dort sieht, während jenseits ihres kleinen Dunstkreises die Welt... ja, die Welt... seufzt und keucht und vorbeizieht.
Nun, was würdest du denken, mein stolzer, eleganter junger Prinz, wenn ich dir sagte, daß ich mich keinen Deut um dein verlorenes Königreich schere, um deinen blinden und aufge-blasenen Adel, um deine finsteren Männer und grell geschminkten Huren. Ich habe zwischen jenen Schenkeln gelegen, ich habe mich satt getrunken auf dem Maskenball, zu dem ihr das Leben gemacht habt, und ich sage dir, das Ganze ist nicht den Staub an deinen Füßen wert.
Mein gesamtes Leben bin ich solchen arroganten und korrup-ten Müßiggängern begegnet, die hochmütig auf ihr Recht po-chen, ein Leben von äußerster Wertlosigkeit führen zu dürfen, die ihr Privileg in Anspruch nehmen, von der Wiege bis zum Grab nichts zu tun, was irgendwelche Bedeutung hätte.
Aber deine Stimme! Ach, deine Stimme, deine Stimme, die der nächtliche Incubus meines geliebten Guido geworden ist und ihn in den Wahnsinn getrieben hat, das ist etwas anderes, deine Stimme! Denn wenn du nur halb soviel Begabung hast, wie er mir geschildert hat, nur halb soviel von dem heiligen Eifer, dann hättest du aus gewöhnlichen Menschen Zwerge und Monstren machen können! London, Prag, Wien, Dresden, Warschau, nenn mir noch andere Städte, ist denn in irgendeiner vergessenen Ecke deiner stinkenden Stadt nicht ein Glo-bus gestanden? Hast du denn nicht gewußt, wie groß Europa ist, hat dir das nie jemand gesagt?
In all diesen großen Städten hättest du die Leute dazu bringen können, vor dir auf die Knie zu fallen, Tausende und Abertausende hätten dich gehört, hätten deinen Namen aus den Opernhäusern und den Kirchen in die Straßen hinausgetra-gen. Auf dem ganzen Kontinent hätten sie ihn voller Erfurcht geflüstert, so wie man von Herrschern, von Helden oder von den Unsterblichen spricht.
Das ist es, was deine Stimme hätte sein können, hättest du ihr nur gestattet, sich aus den Trümmern deines Lebens zu erheben, hättest du sie nur aus all deinem Leid und deinem ganzen Schmerz herausgemeißelt, um Gott das zurückzugeben, was Er dir geschenkt hat!
Aber du gehörst zu jener altmodischen Sorte von Menschen, die nur den eigenen Adel anerkennt, zu den goldgeschmückten Maden, die sich vom Leichnam des venezianischen Staates nähren, den tapferen Streitern für das Privileg, nichts, nichts und abermals nichts zu tun! Und so verlierst du die eine Stärke, mit der du jeden normalen Mann hättest bezwingen können!
Nun, ich werde dich nicht länger unter meinem Dach dulden.
Ich empfinde für dich jetzt kein Mitleid mehr. Ich kann dir nicht helfen. Du bist lediglich eine Laune der Natur ohne die für sie bestimmte Gabe, und es gibt nichts Niedrigeres als das! Verlasse diesen Ort, geh. Du besitzt die Mittel, anderswo eine Heimat für dein Elend zu finden.«
6
Der Berg sprach wieder.
Er schickte ein entferntes Grollen über die mondbeschienenen Hänge, ein schwaches, formloses und schreckliches Ge-räusch, das aus der Erde selbst aufzusteigen schien. Es war ein tiefes Seufzen, das aus den Ritzen und Spalten in diesen uralten gewundenen Straßen sickerte, so als wolle der Boden, wie schon so oft in der Vergangenheit, jeden Augenblick zu bocken und zu rütteln beginnen.
Im schwachen Lichtschein waren überall auf den Balkonen und Dächern erregte Gesichter zu sehen. Sie waren den Blitzen und Rauchwolken am weiten, offenen Himmel zugewandt, der vom Vollmond so strahlend erleuchtet war, daß es fast taghell war. Tonio stieg währenddessen den Hügel hinab, und seine Füße trugen ihn blindlings auf die weiten Plätze und Straßen der unteren Stadt zu. Er ging aufrecht, langsam und würdevoll. Den schweren seidengefütterten Umhang trug er
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