Falsetto
hatten. Und wenn dieser Augenblick kam, würde sich Carlo den Tod wünschen, so wie Tonio ihn sich gewünscht hatte.
Dann konnten Carlos Leibwächter ihn gefangennehmen. Venedig konnte ihn gefangennehmen, Carlos Söhne, es spielte keine Rolle. Carlo würde dann bezahlt haben.
Jetzt die zweite Aufgabe.
Er würde singen.
Das würde er für sich selbst tun, weil er es wollte. Es spielte dabei keine Rolle, ob das nun das einzige war, was ein Eunuch überhaupt konnte, ob es das war, was sein Bruder und seine Handlanger für ihn ausersehen hatten. Er würde es tun, weil er das Singen liebte und brauchte. Außerdem war seine Stimme von allen Dingen, die er auf dieser Welt einst geliebt hatte, das einzige, was er jetzt noch besaß.
Oh, welche Ironie darin lag. Jetzt würde seine Stimme ihn niemals verlassen, würde sich niemals ändern.
Ja, er würde es für sich selbst tun. Er würde seiner Stimme alles geben, was er hatte, und würde mit ihr auf dieser Erde gehen, wohin er mit ihr gehen konnte.
Wer wußte denn, wie herrlich das vielleicht war? Es winkten ihm der himmlische Glanz der Kirchenchöre, vielleicht sogar das großartige Spektakel des Theaters. Er wagte jetzt nicht wirklich daran zu denken, möglicherweise aber würde ihm dadurch die einzige Zeit geschenkt, die er je mit Gottes Engeln verbringen würde.
Die Sonne stand hoch am Himmel. Die Schüler des Conservatorio hatten sich in der Hitze schon längst zur Siesta zurückgezogen und waren in einen unruhigen Schlaf gefallen.
Das Conservatorio ragte, an die Hügel von Neapel geschmiegt, schemenhaft über ihm auf. Es besaß etwas von dem Reiz einer Geliebten.
8
Er erreichte zur stillen, ruhigen Zeit der Siesta das Tor und stieg die Treppe hinauf, ohne daß er gesehen wurde. Sein kleines Zimmer fand er fast genauso vor, wie er es verlassen hatte. Als er seinen Koffer und die wenigen Kleidungsstücke sah, die irgend jemand aus dem Schränkchen geholt und sorgfältig zurechtgelegt hatte, damit er sie mitnehmen konnte, empfand er plötzlich eine tiefe Ruhe.
Die schwarze Tunika war immer noch da. Er zog seinen Rock aus und legte sie an, hob die rote Schärpe vom Boden auf, schlang sie um seine Taille und machte sich, leise am schlummernden Schlafsaal vorbeigehend, wieder nach unten auf den Weg zu Guidos Arbeitszimmer.
Guido ruhte nicht.
Er sah mit dem unverzüglich aufflammenden Zorn, mit dem er jeder Störung begegnete, vom Cembalo auf. Als er Tonio in der Tür stehen sah, war er jedoch sprachlos.
»Wäre der Maestro dazu zu bewegen, mir noch eine Chance zu geben?« fragte Tonio.
Er stand, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, da und wartete.
Guido gab keine Antwort. Tatsächlich wirkte sein Gesicht so bedrohlich, daß sich Tonio einen Augenblick lang seiner aufs Heftigste wiederstreitenden Gefühle für diesen Mann bewußt wurde. Ein einziger Gedanke jedoch trat klar hervor: Dieser Mann hier mußte sein Lehrer sein. Es war undenkbar, daß er bei irgend jemand anderem studierte. Als er daran dachte, daß Guido ins Meer gegangen war, um seinem Leben ein Ende zu setzen, überkam ihn einen kleinen Moment lang ein unausgesprochenes Gefühl, das ihn seit achtundzwanzig Tagen immer wieder beunruhigt hatte. Er verschloß davor sein Herz. Er wartete.
Guido winkte ihn zu sich heran, blätterte dabei wie wild durch seine Noten.
Auf einem kleinen Tischchen neben dem Cembalo sah Tonio ein Glas Wasser stehen. Er trank es leer.
Als er sich die Noten ansah, merkte er, daß es sich um eine Kantate von Scarlatti handelte. Das Stück kannte er zwar nicht, aber er kannte Scarlatti.
Guido stürzte sich in die Introduktion, wobei seine ein wenig kurzen Finger auf den Tasten regelrecht zu hüpfen schienen, dann stimmte Tonio den ersten Ton an, den er absolut genau traf.
Seine Stimme kam ihm riesig und unnatürlich vor, schien völlig unkontrollierbar. Nur mit ungeheurer Willensanstrengung gelang es ihm, weiterzusingen, die Läufe nachzuvollziehen, die sein Lehrer eingefügt hatte, die Verzierungen und Ausschmückungen, mit denen er die Partitur des Komponisten ergänzt hatte.
Schließlich hatte er den Eindruck, daß seine Stimme wieder normal klang. Sie hörte sich beinahe schon gut an. Als er zu Ende gesungen hatte, hatte er das merkwürdige Gefühl zu schweben. Es war, als wäre sehr viel Zeit verstrichen.
Er sah, daß Guido an ihm vorbeiblickte. Der Maestro di Cappella war durch die offene Tür getreten, und nun starrten er und Guido sich an.
»Sing mir
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