Falsetto
Tonio. Ohne zurückzublicken erhob er sich auf alle viere und rannte den Hang hinauf. Da er sich dabei an Wurzeln und versengten Ästen festhielt und seine Stie-felspitzen in die weiche Erde grub, wurde er immer schneller.
Wieder regnete es Steine. Die Eruptionen traten in ganz bestimmten Abständen auf. Er konnte deren Rhythmus jedoch nicht bestimmen, aber es war ihm auch egal. Immer wieder warf er sich zu Boden, um sein Gesicht zu schützen, und stand auf, sobald er konnte, während der Feuerschein trotz des Schleiers aus Asche, der zu einer richtigen Wolke geworden war, den Himmel über ihm erleuchtete.
Ein Hustenkrampf zwang ihn anzuhalten. Als er weiterkletterte, hielt er sich sein Taschentuch vor den Mund und kam deshalb nun langsamer voran. Seine Hände waren übel zugerichtet, ebenso seine Knie. Die Gesteinsbrocken, die diesmal auf ihn niederregneten, verletzten ihn an der Stirn und der rechten Schulter.
Der Berg gab erneut ein Brüllen von sich, ein Grollen, das immer lauter wurde, bis es abermals zu einem entsetzlichen Röhren wurde. Die Nacht war wieder hell erleuchtet.
Als sein Blick auf die halb abgestorbenen Bäume, die ein Stück weiter oben standen, fiel, sah er, daß er jetzt den Fuß des eigentlichen Vulkankegels erreicht hatte. Er war fast am Gipfel des Vesuvs angelangt.
Er grub seine Hände fest in die Erde über sich, nahm ganze Hände voll davon, aber sie bröckelte ab, Kiesel und Gesteins-stücke kamen ihm entgegen, fielen ihm ins Gesicht. Plötzlich spürte er, wie sich der Boden unter ihm bewegte! Er wurde nach oben gehoben. Das wütende Röhren machte ihn fast taub. Rauch und Asche wirbelten, begleitet von einem heftigen, blendenden Blitz, in die Luft. Im Lichtschein war der ho-he, kahle Bergkegel zu erkennen, der gen Himmel ragte.
Wieder arbeitete Tonio sich ein Stück weiter hinauf. Er ging auf einen Baum zu, einen letzten knorrigen und gequälten Wachtposten, den er in nur wenigen Metern Entfernung vor sich sah. Aber er stürzte, fühlte, wie er abermals empor-geschleudert wurde. Der Baum vor ihm brach mit einem gewaltigen Krachen auseinander.
Die eine Hälfte des Stammes klappte nach rechts weg, schien sich wieder zu fangen, knallte dann mit donnerndem Krachen zu Boden. Kochendheißer Dampf stieg aus den Rissen auf, die sich überall auftaten. Jetzt kletterte Tonio verzweifelt rück-wärts.
Er rutschte ab. Er fühlte Erde im Mund, tote Blätter klebten an seinen Augenlidern. Aber selbst so blind, wie er jetzt war, konnte er immer noch den roten Blitz einer Explosion sehen.
Er preßte sich fest auf den Boden, wurde mitsamt dem Untergrund hochgehoben, zur Seite geschoben, aber er blieb bewegungslos liegen. Das Röhren erhob sich abermals, machte ihn fast taub. Obwohl sein Hals sich in krampfhaftem Schreien zusammenzog, obwohl seine Hände sich in das lose Gestein krallten, hörte er von sich keinen Ton, fühlte er kein Leben in sich, als er Teil des Berges und des brodelnden Kessels in dessen Innerem wurde.
7
Die Sonne schien warm auf sein Gesicht.
Rauch hing in Tausenden und Abertausenden von winzigen Partikeln in der Luft. Dennoch sangen weit entfernt die Vögel.
Es war Mittag, das konnte er am Sonnenstand erkennen. Der Berg gab jetzt nur noch ein schwaches Murmeln von sich.
Er hatte gerade die Augen aufgeschlagen. Eine Weile lag er ganz still da, dann erkannte er, daß ein Mann vor ihm stand.
Die Gestalt ragte schwankend vor einem Hintergrund aus blauem Himmel und üppig grünen Hängen auf. Die Hänge waren von knorrigen Bäumen bewachsen und erstreckten sich zur fruchtbaren Ebene hinunter, in der die bunten Facetten aus Farbe und Licht lagen, aus denen Neapel bestand. Die Gestalt hingegen war so ausgezehrt, so bleich und hatte einen so wilden Blick, daß sie das Antlitz des Todes selbst zu sein schien.
Es war jedoch nicht der Tod. Es war nur jener Mann, der in der vergangenen Nacht aus seiner Hütte gekommen war, um Tonio davor zu warnen, noch weiter hinaufzusteigen.
Stumm streckte er seine Hand aus, half Tonio beim Aufstehen und führte ihn dann langsam den Berg hinunter.
Sobald Tonio die Stadt erreicht hatte, ging er zu einem der besseren alberghi am Molo und mietete dort eine teure Suite.
Nachdem er einen Diener losgeschickt hatte, um frische Wä-
sche zu besorgen, nahm er ein Bad. Als er gebadet hatte, ließ er die Wanne hinausbringen und stand dann eine Weile allein und nackt vor dem Spiegel. Schließlich zog er ein sauberes Hemd an, zupfte die Spitze am
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