Falsetto
das noch einmal vor«, sagte der Maestro und kam näher.
Tonio zuckte leicht mit den Achseln, konnte sich dabei jedoch nicht überwinden, diesem Mann ins Gesicht zu sehen. Er senkte den Blick, griff dann an den schlichten Kragen seiner schwarzen Tunika, um ihn wie beiläufig zurechtzurücken. Er spürte, wie das Gewand ihn umschloß, ihn dabei auf eine Weise, die er noch nie erlebt hatte, kennzeichnete. Einen un-aussprechlichen Augenblick lang konnte er sich an all die scharfen Worte erinnern, mit denen dieser Mann ihn getadelt hatte.
Es schien in einem anderen Zeitalter gewesen zu sein. Was dort gesagt worden war, war nicht mehr von Bedeutung.
Er sah die großen Hände des Maestro, das Haar auf seinen Fingerrücken. Er sah den breiten Ledergürtel, mit dem seine Soutane zusammengehalten wurde. Die unverstümmelte Ana-tomie des Mannes darunter konnte er sich mühelos vorstellen.
Als er dann langsam wieder aufblickte, sah er den Bartschat-ten, der Gesicht und Hals des Maestro verdunkelte.
Schließlich wagte er es, dem Maestro in die Augen zu blicken.
Er war überrascht: Diese Augen waren sanft und vor Ehrfurcht und Erwartung ganz groß geworden. Guido sah Tonio genauso an. Sie warteten.
Er holte Luft und begann zu singen. Diesmal hatte er seine Stimme sofort unter Kontrolle.
Er ließ die Töne aufsteigen, folgte ihnen im Geiste, modulierte sie ohne die geringste Schwierigkeit. Dann kamen die einfa-cheren, kräftigeren Passagen des Liedes. Seine Stimme erhob sich. Und in einem unbestimmbaren Augenblick war ihm die Freude in all ihrer Reinheit zurückgegeben.
Er hätte weinen mögen.
Hätte er Tränen gehabt, dann hätte er geweint, und es spielte keine Rolle für ihn, daß er nicht allein war, daß sie es gesehen hätten.
Seine Stimme gehörte ihm wieder.
Das Lied war zu Ende.
Er blickte in den Klostergarten hinaus auf das Licht, das in den Blättern flimmerte, und spürte, wie ihn eine heftige, köstliche Müdigkeit übermannte. Es war ein warmer Nachmittag. In gro-
ßer Ferne glaubte er spielende Kinder zu hören.
Vor ihm jedoch erhob sich ein Schatten. Als er sich beinahe zögernd umdrehte, blickte er in das Gesicht von Maestro Guido.
Dann legte Guido die Arme um ihn, und Tonio überließ sich langsam, zaghaft dieser Umarmung.
Ihm war, als würde er sich an einen anderen Augenblick erinnern, an eine andere Zeit, als er jemanden in seinen Armen gehalten hatte. Das war genau dasselbe süße, heftige und verborgene Gefühl gewesen. Was immer es aber gewesen war - wann immer es gewesen war -, es war weg. Er konnte es sich nicht mehr ins Gedächtnis zurückrufen.
Maestro Cavalla trat auf ihn zu.
Er sagte: »Du hast eine herrliche Stimme.«
VIERTER TEIL
1
Als Tonio an jenem ersten Nachmittag im Conservatorio seinen Koffer auspackte (seine Familie hatte ihm in der Tat alles geschickt, was ihm gehörte), ein paar seiner Lieblingsklei-dungsstücke in das rote, goldverzierte Schränkchen räumte und seine Bücher auf die Regale im Zimmer stellte, war er sich bewußt, daß die Verwandlung, die er auf dem Vesuv durchgemacht hatte, erst noch die Bewährungsprobe bestehen mußte.
Dies war auch einer der Gründe dafür, weshalb er dieses kleine Zimmer nicht aufgeben wollte, obwohl der Maestro di Cappella erklärt hatte, er könne, wenn er das wünsche, sofort ein ungenutztes Zimmer im ersten Stock beziehen. Tonio wollte von seinem Fenster aus den Vesuv sehen können. Er wollte nachts im Bett liegen und das Feuer des Berges vor dem Hintergrund des mondhellen Himmels betrachten. Er wollte sich stets daran erinnern können, daß er auf diesem Berg gelernt hatte, was es bedeutete, vollkommen allein zu sein.
Es würde Augenblicke geben, in denen er den heftigsten Schmerz empfinden würde, und er ahnte dunkel, daß ihm, ganz gleich, wie ergeben er sich jetzt in sein Schicksal fügte, ganz gleich, welch entsetzliche Qual er in den letzten Monaten empfunden hatte, das Schlimmste noch bevorstand.
Und er hatte recht.
Kleine schmerzliche Augenblicke erlebte er unverzüglich.
Er erlebte sie im warmen Sonnenlicht des Nachmittags, als er seine Brokat- und Samtröcke aus dem Koffer nahm, die er in Venedig einst bei festlichen Abendessen und auf Bällen getragen hatte, er erlebte sie, als er den pelzgefütterten Mantel in den Händen hielt, in den er sich damals gehüllt hatte, als er im zugigen Parkett des Theaters gesessen und in das Gesicht des Sängers Caffarelli hinaufgestarrt hatte.
Auch als er an diesem
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