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Falsetto

Falsetto

Titel: Falsetto Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Abend im Speisesaal seinen Platz unter den anderen Kastraten einnahm und dabei so tat, als wür-de er die Bestürzung auf ihren feindseligen Gesichtern nicht sehen, empfand er Schmerz.
    All das jedoch ertrug er mit gelassenem Gesicht. Er begrüßte seine Mitschüler mit einem Nicken. Jenen, die ihn verspottet hatten, warf er ein entwaffnendes Lächeln zu. Paolo, dem kleinen Jungen, der mit ihm aus Florenz gekommen war, strich er übers Haar.
    Genauso ruhig übergab er dem Maestro di Cappella auch seine Börse.
    Als man ihn dann aufforderte, auch seinen Degen und sein Stilett abzugeben, lächelte er wieder freundlich, schüttelte aber, innerlich zitternd, leicht den Kopf, so als würde er kein Italienisch verstehen. Die Pistolen, die würde er selbstverständlich abgeben. Aber seinen Degen? Nein. Er lächelte.
    Niemals.
    »Du bist doch kein Student der Universität«, meinte der Maestro barsch. »Du ziehst doch nicht nach Lust und Laune durch die Tavernen hier am Ort. Ist es wirklich nötig, dich daran zu erinnern, daß Lorenzo, der Schüler, den du verwundet hast, das Bett immer noch nicht verlassen kann? Ich will hier keine weiteren Streitereien mehr haben. Gib mir deinen Degen und dein Stilett.«
    Wieder dieses freundliche Lächeln. Tonio täte es leid, was Lorenzo passiert ist. Aber Lorenzo sei in sein Zimmer eingedrungen. Er sei gezwungen gewesen, sich zu schützen. Er könne seinen Degen nicht abgeben. Und das kleinere und nützliche-re Stilett würde er ebenfalls nicht freiwillig herausgeben.
    Niemand merkte, wie erstaunt er war, als der Maestro di Cappella ihn beides behalten ließ.
    Erst als er sich wieder in seinem Mansardenzimmer befand und ungestört war, begann er darüber zu lachen. Er hatte erwartet, daß der ausdrückliche Befehl »Verhalte dich wie ein Mann« sein Schutzpanzer gegen Demütigungen sein würde.
    Was er nicht erwartet hatte, war, daß er damit auch andere Menschen beeinflussen konnte! Langsam fing er zu begreifen an, daß das, was er vom Vesuv mit heruntergebracht hatte, eine Verhaltensweise war. Egal, was er gerade fühlte, er wür-de sich so verhalten, als hätte er keine Gefühle, und alles würde leichter sein.
    Natürlich bedauerte er es sehr, daß er Lorenzo verletzt hatte.
    Es war nicht so, daß der Junge das nicht verdient hätte, aber es bedeutete, daß Lorenzo ihm später möglicherweise Ärger machte.
    Es war bereits seit einer Stunde dunkel. Tonio dachte immer noch über die Sache mit Lorenzo nach, als er draußen im Korridor die älteren Kastraten hörte. Es waren jene Jungen, die dafür zu sorgen hatten, daß im Schlafsaal Ruhe herrschte, jene, die Lorenzo damals in Tonios Zimmer begleitet hatten, um ihn zu schikanieren.
    Jetzt war er für sie bereit. Er bat sie, einzutreten, und bot ihnen eine Flasche vorzüglichen Wein an, den er in dem alberg-ho am Meer gekauft hatte, und entschuldigte sich gleichzeitig dafür, daß er weder Becher noch Gläser hatte. Er würde diesen Mangel schon bald beheben. Würden sie ihm bei einem kleinen Schluck Wein Gesellschaft leisten? Er ließ sie auf seiner Bettkante Platz nehmen, holte sich selbst den Stuhl von seinem Schreibtisch und ließ die Weinflasche herumgehen.
    Als er sah, daß der Wein ihnen schmeckte, reichte er ihnen die Flasche ein weiteres Mal.
    Tatsächlich konnten sie nicht widerstehen.
    Tonio sah sie sich jetzt zum ersten Mal genau an, und während er das tat, begann er zu sprechen. Mit leiser Stimme redete er gerade soviel über das Wetter in Neapel und über ein paar Besonderheiten der Stadt, daß das Schweigen sie nicht bedrückte. Dennoch vermittelte er dabei nicht den Eindruck, redselig zu sein, was er im Grunde ja auch nicht war.
    Er versuchte sie einzuschätzen, versuchte herauszufinden, wer von ihnen sich Lorenzo gegenüber, der immer noch im Bett lag, weil sich die Wunde entzündet hatte, loyal verhalten würde.
    Der größte war Giovanni. Er kam aus Norditalien, war unge-fähr achtzehn Jahre alt und besaß eine leidlich gute Stimme, wie Tonio in Guidos Studierzimmer gehört hatte. Er würde niemals in der Oper auftreten, aber als junger Maestro bewies er viel Geschick bei den kleineren Jungen, und so mancher Kirchenchor würde ihn später gerne aufnehmen. Sein schlaffes schwarzes Haar trug er streng zu einem Zopf zurückgebunden. Sein Blick war sanft, uninteressant, vielleicht sogar feige.
    Er schien uneingeschränkt bereit, Tonio zu akzeptieren.
    Dann war da Piero, der Blonde, der ebenfalls aus Norditalien stammte.

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