Falsetto
Kragen und an den Manschet-ten sorgfältig zurecht, zog dann seinen Rock, den er hatte ausbürsten lassen, seine Hose und Strümpfe an und ging hinaus auf die Veranda.
Man brachte ihm Obst und Schokolade zum Frühstück, au-
ßerdem den türkischen Kaffee, den er in Venedig stets so gern getrunken hatte.
Da saß er nun im Freien und ließ seinen Blick über den mor-gendlichen Verkehr hinweg zum weißen Strand und dem blaugrünen Wasser schweifen.
Auf dem Meer wimmelte es von Fischerbooten und Schiffen, die in den Hafen einliefen.
Auf dem Largo, dem großen, weiten Platz unter ihm, herrschte geschäftiges Treiben, wie er es hier zu sehen gewöhnt war.
Tonio dachte nach.
Seit vierzehn Tagen befand er sich nun in Neapel. Davor war er, nachdem er jenes schmutzige Zimmer in Flovigo verlassen hatte, vierzehn Tage lang unterwegs gewesen. Es war durchaus möglich, daß er während all dieser Zeit nicht ein einziges Mal wirklich seinen Verstand gebraucht hatte.
All das, was ihm widerfahren war, lastete in seiner Gesamtheit auf ihm. Dennoch konnte er es nicht als Ganzes sehen. Vielmehr bedrängten ihn alle Einzelheiten davon wie eine höllische Heerschar summender Fliegen, um ihn um den Verstand zu bringen. Fast hatten sie das auch geschafft. Von Haß zerfressen, von Kummer um den Mann zerfressen, der er jetzt niemals mehr werden würde, hatte er blindlings um sich geschlagen, hatte dabei allen Menschen in seiner Nähe, auch sich selbst, weh getan.
Nun, das war vorbei.
Das hatte sich geändert.
Er war sich jedoch nicht ganz sicher, warum das so war.
Im Zentrum dieser Veränderung stand die Erkenntnis - eine Erkenntnis, die er nicht in der Hitze der Wut und des Schmerzes gewonnen hatte, sondern kühl, inmitten der Gefahr -, daß er jetzt vollkommen allein war.
Er hatte niemanden.
Carlo hatte ihm Böses angetan, unwiderruflich Böses.
Und dies hatte Tonio von all jenen, die er liebte, getrennt, und zwar völlig. So, wie er jetzt war, konnte er niemals wieder bei seiner Familie oder seinen Freunden leben. Wenn er es täte, dann würden ihr Mitleid, ihre Neugierde, ihr Entsetzen ihn schlicht zugrunde richten.
Selbst wenn man ihn nicht aus Venedig verbannt hätte - was allerdings eine unabänderliche Tatsache war und eine quälende Erniedrigung für ihn darstellte -, konnte er nicht dorthin zu-rückkehren. Venedig und all jene, die er kannte und liebte, waren für ihn verloren.
In Ordnung. Das war der einfachere Teil.
Jetzt kam der schwierigere.
Andrea hatte ihn ebenfalls verraten, denn er hatte sicherlich gewußt, daß Tonio nicht sein Sohn war. Dennoch hatte er Tonio glauben lassen, daß es so wäre, und er hatte ihn gegen Carlo aufgehetzt, damit er nach seinem Tod seine Schlacht weiterkämpfte. Das war ein schrecklicher, schrecklicher Verrat.
Doch selbst jetzt wußte Tonio, was Andrea zu seiner Verteidi-gung sagen würde. Was wäre Tonio ohne Andrea denn gewesen? Der erste einer elenden Brut von Bastarden, Kind eines in Ungnade gefallenen Edelmannes und eines zugrunde ge-richteten Mädchens aus dem Kloster? Wie wäre Tonios Leben dann verlaufen? Andrea aber hatte seinen rebellischen Sohn bestraft, hatte die Ehre seiner Familie gerettet und Tonio zu seinem Sohn gemacht.
Aber selbst Andreas letzter Wille konnte keine Wunder bewirken. Mit seinem Tod waren die Illusionen und Gesetze, die er geschaffen hatte, in sich zusammengefallen. Außerdem hatte er Tonio niemals begreiflich gemacht, was vor ihm lag. Er hatte Tonio in den Kampf geschickt und ihm als Rüstzeug lediglich Lügen und Halbwahrheiten mitgegeben. Ja, er hatte Andrea verloren.
Und was war von den Treschi geblieben? Carlo, Carlo, der ihm das angetan hatte, Carlo, der zwar nicht den Mut besaß, ihn zu töten, aber die Gerissenheit, zu wissen, daß Tonio ihn um des Hauses der Treschi willen niemals verklagen würde.
Feige war er, aber sehr schlau. Dieser verdorbene und rebellische Mann, der einst aus Liebe zu einer Frau gedroht hatte, seine Familie zum Aussterben zu verdammen, würde ebendiese Familie nun auf der Grausamkeit und Gewalt, die er seinem schuldlosen Sohn zugefügt hatte, wieder aufbauen.
Die Treschi waren also von ihm gegangen: Andrea, Carlo.
Dennoch floß das Blut der Treschi in seinen Adern. In ihm lebte die Liebe zu jenen Treschi weiter, die es vor diesen beiden Männern, Vater und Großvater, gegeben hatte, und zu jenen, die danach kommen würden, nämlich den Kindern, die die Erben der Traditionen und der Stärke einer Familie
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