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Falsetto

Falsetto

Titel: Falsetto Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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waren in einer Welt, die sich kaum oder gar nicht an Tonio, Carlo, Andrea, an dieses schreckliche Durcheinander von Ungerechtigkeit und Leid erinnern würde.
    In Ordnung, das war schwer.
    Aber was jetzt kam, war das Schwerste.
    Tonio Treschi war ein Eunuch.
    Tonio Treschi war dieser halbe Mann, dieses Wesen, das weniger als ein Mann war und dem jeder unversehrte Mann Verachtung entgegenbrachte. Tonio Treschi war dieses Ding, das die Frauen faszinierte und das die Männer höchst beunruhigend, erschreckend und bemitleidenswert fanden, eine Ziel-scheibe des Spottes und endloser Schikanen, das notwendige Übel in Kirchenchören und auf Opernbühnen, etwas, das au-
    ßerhalb dieser Kunstfertigkeit, Eleganz und Musik ganz einfach monströs war.
    Sein ganzes Leben lang hatte er gehört, wie hinter den Rükken der Eunuchen geflüstert wurde, hatte das höhnische Lä-
    cheln gesehen, die hochgezogenen Augenbrauen, die nachäffenden Gesten! Nur allzu gut hatte er den Zorn des stolzen Sängers Caffarelli verstanden, der im Rampenlicht stand und die Venezianer wütend anfunkelte, die dafür bezahlt hatten, um ihn wie ein Äffchen Kunststücke vorführen zu sehen.
    Bereits innerhalb der Grenzen des Conservatorio, an das er sich geklammert hatte wie ein schiffbrüchiger Gefangener an die Wrackteile seines Gefängnisbootes, hatte er den Selbst-haß dieser zur Geschlechtslosigkeit verdammten Knaben gesehen, die ihn voller Hohn dazu bringen wollten, ihren entwürdigenden Zustand zu teilen. »Du bist genau wie wir«, hatten sie ihm nachts, wenn sie in sein Zimmer geschlichen waren, in der Dunkelheit zugezischt.
    Ja, er war genau wie sie. Und wie die Welt davon Kenntnis nahm! Der Ehestand war ihm für immer verweigert, er durfte seinen Namen weder der geringsten Frau noch dem bedürftig-sten Stiefkind geben. Auch die Kirche würde ihn niemals aufnehmen, lediglich die niedrigsten Weihen konnte er erhalten und selbst das nur mit besonderem Dispens.
    Nein, er war verstoßen, von der Familie, von der Kirche, von jeder großen Institution auf dieser Welt, die seine Welt gewesen war. Mit einer Ausnahme:
    Das war das Conservatorio. Das war die Welt der Musik, auf die das Conservatorio ihn vorbereiten würde.
    Keines von beidem stand in Verbindung mit dem, was ihm von den Schergen seines Bruders angetan worden war.
    Hätte es nicht das Conservatorio gegeben, hätte es nicht die Musik gegeben, dann wäre das, was man ihm angetan hatte, schlimmer als der Tod gewesen.
    So wie es sich jetzt verhielt, war es nicht schlimmer.
    Als er damals auf jenem Bett in Flovigo gelegen und ihm dieser Alonso eine Pistole an den Kopf gehalten und gesagt hatte: »Du hast dein Leben, nimm es und verschwinde von hier«, da hatte er geglaubt, daß es schlimmer als der Tod wäre. »Tö-
    te mich«, hatte er antworten wollen, aber selbst dazu hatte ihm damals der Wille gefehlt.
    Auf dem Berg aber, an ebendiesem Tag, hatte er nicht sterben wollen. Da war das Conservatorio und da war die Musik, die, selbst in den Momenten seiner schlimmsten Qual, rein und herrlich in seinem Kopf erklungen war.

    Eine winzige Gefühlsregung huschte über sein Gesicht. Er starrte aufs Meer hinaus, wo Kinder in den Wellen planschten wie ein großer Schwärm von Schwalben.
    Was also würde er tun?
    Er wußte es. Er hatte es gewußt, als er von diesem Berg heruntergekommen war. Vor ihm lagen jetzt zwei Aufgaben.
    Die erste war, sich an Carlo zu rächen. Aber das würde Zeit brauchen.
    Denn Carlo mußte heiraten. Carlo mußte zuerst Kinder bekommen, gesunde, kräftige Kinder, die sich prächtig entwickel-ten, damit sie eines Tages heiraten und selbst Kinder bekommen konnten.
    Dann aber würde er sich an Carlo rächen. Ob er dabei selbst mit unterging, spielte keine Rolle. Vermutlich würden ihn die Schergen des Staates schnappen, vielleicht würde er auch Carlos Bravos in die Hände fallen, aber nicht bevor er zu Carlo vorgedrungen war und ihm ins Ohr geflüstert hatte: »Wir haben noch eine alte Rechnung zu begleichen.«
    Er war sich noch nicht sicher, was er dann tun würde. Als er an jene Männer in Flovigo dachte und ihm bewußt wurde, mit welcher Gerissenheit Carlo vorgegangen und wie endgültig all das war, dann schien ihm der Tod für seinen Vater, der in seinen fünfunddreißig Jahren bereits soviel gelebt und geliebt hatte, eine viel zu geringe Strafe.
    Er wußte nur, daß er Carlo eines Tages in seine Gewalt bringen würde, so wie jene Männer in Flovigo ihn in ihre Gewalt gebracht

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