Falsetto
Er hatte Tonio oft Schimpfworte zugezischt und dann immer den Kopf weggedreht, so als hätte er nichts gesagt. Er besaß eine bessere Stimme, einen Alt, der eines Tages vielleicht sogar berühmt werden würde. Doch nach dem zu urteilen, was Tonio in der Kirche von ihm gehört hatte, fehlte ihm irgend etwas. Vielleicht Leidenschaft, vielleicht Phantasie. Er trank den Wein jetzt mit einem leicht höhnischen Grinsen, sein Blick war kalt und argwönisch. Als Tonio jedoch das Wort an ihn richtete, schien er unverzüglich weich zu werden. Tonio fragte ihn etwas, und er gab überaus bereitwillig und ausführlich Antwort. Also brauchte er schlicht und einfach Aufmerksamkeit.
Und schließlich war da der sechzehnjährige Domenico. Er besaß eine so auserlesene Schönheit, daß man ihn sowohl für einen Mann als auch für eine Frau hätte halten können. Da sich sein Brustkorb durch das Singen und aufgrund der Flexibilität seiner Eunuchenknochen geweitet hatte, besaß er tatsächlich weibliche Formen, eine schmale Taille und darüber eine Ausbuchtung, die einen Busen hätte vermuten lassen können. Seine dunklen Wimpern und rosa Lippen glänzten, als wären sie geschminkt. Natürlich waren sie das nicht. An seinen Fingern trug er ein Sortiment von Ringen, in denen sich das Licht brach, wenn er mit bedächtiger Eleganz und überaus schleppenden Bewegungen gestikulierte. Sein schwarzes Haar ließ er in natürlichen Locken auf die Schultern herabfallen; es war lediglich ein klein wenig zu lang. Domenico sagte überhaupt nichts. Das brachte Tonio zu Bewußtsein, daß er noch nie gehört hatte, wie Domenicos Stimme klang, weder beim Singen noch beim Sprechen. Es machte ihn neugierig.
Domenico war einfach immer nur da und sah zu. Er hatte mit ausdruckslosem Gesicht zugesehen, wie Lorenzo niedergestochen wurde.
Als er jetzt die Flasche Wein entgegennahm, sich zuerst die Lippen mit einer Spitzenserviette abwischte, heftete er seinen Blick auf Tonio, so als würde er ihn ganz neu beurteilen. Dieses Starren war entnervend. Tonio dachte: Diese Kreatur ist sich ihrer Schönheit so deutlich bewußt, daß sie sich schon jenseits der Eitelkeit befindet.
In der kommenden Opernproduktion auf der kleinen Bühne des Conservatorio würde Domenico die weibliche Hauptrolle übernehmen. Tonio stellte plötzlich fest, daß ihn die Aussicht, diesen Jungen in ein Mädchen verwandelt zu sehen, faszinierte. Er stellte sich vor, wie die Korsettstäbchen Domenicos Taille umschlossen, und wurde rot. Plötzlich konnte er dem, was Giovanni gerade zu ihm sagte, nicht mehr folgen.
Er holte kurz und verlegen Luft. Domenico hatte den Kopf ein wenig schief gelegt. Er lächelte fast. Im Kerzenschein wirkte seine Haut wie Porzellan, sein Kinn war ein wenig gespalten, was ein typisch männliches Attribut war und das Ganze um so verwirrender machte.
Als seine Gäste gegangen waren, setzte sich Tonio auf die Bettkante und dachte nach. Dann blies er die Kerze aus, legte sich hin und versuchte zu schlafen. Da es ihm nicht sofort gelingen wollte, stellte er sich vor, wieder auf dem Vesuv zu sein.
Er spürte wieder die erzitternde Erde, spürte, wie sie an seinen Augenlidern zog.
Sich daran zu erinnern, wie sich diese Erde angefühlt hatte, wie der Berg gegrollt hatte, wurde ein Ritual, das er viele Jahre lang allnächtlich wiederholte.
2
Am nächsten Morgen erwachte er, obwohl er von der Nacht, die er auf dem Berg verbracht hatte, immer noch überall blaue Flecken hatte, in außergewöhnlich guter Laune. Er würde seine Studien bei Guido unverzüglich beginnen. Der Maestro saß an seinem Cembalo und machte Notizen.
Anscheinend arbeitete er schon seit Stunden, denn seine Kerze war weit heruntergebrannt. Die Dunkelheit draußen vor seinem Fenster verwandelte sich in Nebel. Tonio, der sich auf eine Bank an der Wand setzte, um zu warten, nahm zum ersten Mal die Einzelheiten in diesem kleinen Raum wahr.
Das Zimmer besaß einen Steinboden, auf dem lediglich eine Binsenmatte lag. Dennoch war das gesamte Mobiliar - das Cembalo, das Stehpult, Stuhl und Bank - üppig mit Blumenmo-tiven und schimmerndem Lack verziert. Die Farben schienen vor den kahlen Wänden regelrecht zu pulsieren. Der Maestro in seinem schwarzen Rock und der kleinen Halsbinde aus Leinen wirkte düster und klerikal, aber so, als würde er zu allem hier dazugehören.
Sie begannen an diesem Tag mit einem einfachen Accentus.
Tonio bekam sechs Noten in aufsteigender Tonfolge gezeigt,
»Ut, Re, Mi,
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