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Falsetto

Falsetto

Titel: Falsetto Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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als würde er das Gleichgewicht verlieren.
    Plötzlich wurde er sich seines Bodensatzes von Träumen be-wußt, die er am Morgen stets vergessen hatte. Eine kleine Tür, hinter der Alpträume und das Nichts lagen, drohte aufzu-schwingen. Er konnte nicht aufhören, bitterlich zu weinen, und wünschte sich, Guido Maffeo würde aus dem Zimmer gehen, würde ihm voller Abscheu den Rücken kehren, geh schon.
    Verschwinde hier!

    Das war es, was der Maestro gleich sagen würde. »Verschwinde hier.«
    »Meine Stimme ist rauh«, sagte Tonio schließlich. »Sie ist ungleichmäßig, sie schnappt über, wie es ihr gefällt. Was ich bis jetzt gelernt habe, ist schlicht und einfach, zu hören, wie schlecht sie ist!«
    Guido blickte ihn finster an. Dann wurde sein Gesicht merkwürdig leer.
    »Darf ich zu Bett gehen?« flüsterte Tonio.
    »Noch nicht«, sagte Guido. »Geh in dein Zimmer hinauf und zieh dich um. Ich nehme dich in die Oper mit.«
    »Was?« Tonio hob den Kopf. Er konnte kaum glauben, was er da gehört hatte. »Wir gehen aus, wir gehen in die Oper!«
    »Wenn du aufhörst, zu greinen wie ein kleines Kind, dann ja.
    Geh dich unverzüglich umziehen.«

    3

    Tonio nahm immer zwei Stufen auf einmal. Er kühlte sich das Gesicht mit kaltem Wasser und begann seine feinen Kleider, die er seit Venedig nicht mehr getragen hatte, aus dem Schrank zu holen. In Windeseile hatte er einen dunkelblauen Brokatrock und sein feinstes weißes Spitzenhemd angezogen, dazu Schnallenschuhe mit falschen Steinen. Mit umgeschnall-tem Degen stand er jetzt im unteren Stockwerk, in dem sich Guidos Wohnräume befanden.
    Erst jetzt erinnerte er sich wieder daran, daß er Guido eigentlich verachtete. Und daß er kein Kind war, das noch nie in der Oper gewesen war. Aber das vergaß er sofort wieder. Tatsächlich war er so glücklich, daß er es kaum fassen konnte. Er lachte beinahe.
    Dann erschien Guido, und Tonio, der lediglich auf sein klerikales Schwarz vorbereitet war, war erstaunt. Der Maestro trug einen Rock aus schokoladenbraunem Samt, der genau dasselbe Braun wie seine Augen und sein ordentlich gekämmtes Haar hatte, und darunter eine Weste aus goldfarbener Seide.
    Seine Augen waren so groß, daß sie beunruhigend wirkten.
    Hätte er die geringste Liebenswürdigkeit an den Tag gelegt, hätte sich das allerkleinste Lächeln auf seine Lippen gestoh-len, dann hätte er ganz außer Zweifel hübsch ausgesehen.
    Aber er war so säuerlich und grüblerisch wie immer.
    Tonio versteifte sich, als er seinen bösen Gesichtsausdruck sah. Er folgte ihm schweigend zur ersten belebten Straßenek-ke, wo sie ein Kabriolett herbeiwinkten, das sie zum Teatro San Bartolommeo brachte.
    Das Opernhaus war alt, strahlend hell erleuchtet und wimmelte von Menschen. Die Spielezimmer waren voller Rauch und Lärm. Das Publikum war unruhig und schnatterte, obwohl sich die Vorstellung bereits in vollem Gang befand. Das Teatro San Bartolommeo war in Neapel das Opernhaus, in dem heroische Opern - das bedeutete, ernste Opern - gegeben wurden und das von den Aristokraten besucht wurde, die jetzt auch den ersten Rang im rechteckigen Zuschauerraum füllten.
    Für Tonio war es wie ein Traum. Es hatte geradezu den Anschein, als hätte er niemals zuvor solchen Glanz gesehen, wäre niemals von Kronleuchtern aus Muranoglas umgeben aufgewachsen, hätte niemals solch einen Reichtum an Wachskerzen gesehen.
    Guido hatte in seinen Augen eindeutig an Würde und Eleganz gewonnen. Jetzt kam er ihm fast wie in feiner Herr vor. Er kaufte sowohl das Libretto als auch die Partitur und führte Tonio nicht hinauf zu den lauten Logen, sondern hinunter zu den teuersten Plätzen im Parterre, direkt vor der Bühne.
    Der erste Akt lief erst seit einer halben Stunde, die wichtigsten Arien standen also noch bevor. Sobald Guido sich bequem hingesetzt hatte, zog er Tonio dicht neben sich.
    Das soll das Biest sein, das mich über einen Monat lang ange-faucht hat, dachte Tonio. Er war ein wenig verwirrt. Und er konnte nicht aufhören, Guido anzusehen.
    Es würden zwei Kastraten auftreten, erklärte Guido, und eine reizende Primadonna. Der alte Eunuch würde jedoch besser als alle anderen singen, und zwar nicht, weil er eine ordentliche Stimme hatte, das war nämlich gar nicht der Fall, sondern weil er die nötige Kunstfertigkeit besaß.
    Sobald der Kastrat zu singen begann, war Tonio gefesselt.
    Seine Stimme war seidig, voller Zärtlichkeit und brachte ihm ungeheuer viel Applaus ein. »Und das ist keine große

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