Falsetto
Übungen zurückkehrte, war ihm klargeworden, daß seine Stimme auch etwas mit Macht zu tun hatte.
Später an diesem Abend, als er so müde war, daß er schon ins Stolpern kam, wenn er auch nur an sein Bett dachte, hatte er das Gefühl, sich in etwas verwandelt zu haben, das nicht mehr menschlich war. Er war zu einem Instrument geworden, aus dem sich seine Stimme erhob, als würde jemand anderes darauf spielen. Er konnte spüren, wie seine Stimme aus ihm aufstieg, er konnte spüren, wie gleichmäßig, wie glatt sie war.
Ihm war schwindelig, als er schließlich die Stufen zu seinem Zimmer emporstieg. Im Bett stellte er dann fest, daß er seit mindestens zehn Tagen nicht ein einziges Mal an jene Dinge gedacht hatte, die ihm geschehen waren, bevor er hierhergekommen war.
Am nächsten Morgen informierte ihn Guido darüber, daß sie aufgrund seiner ausgezeichneten Fortschritte mit der Esclamazio beginnen würden. Bei jedem anderen Schüler wäre ein solcher Sprung undenkbar gewesen, Guido hatte jedoch eigene Vorstellungen davon, wie schnell man vorgehen sollte.
Die Esclamazio war das langsame und vollkommen kontrollier-te Anschwellen eines Tones, der leise begann, immer lauter wurde, dann langsam zurückgenommen wurde, um leise aus-zuklingen. Oder man begann laut, nahm ihn in der Mitte zu-rück und ließ ihn zum Ende hin wieder lauter werden.
In beiden Fällen war es absolut wichtig, sich genau auf das zu konzentrieren, was man tat. Wieder spielte die Lautstärke keine Rolle. Wieder mußte der Ton absolut schön sein. Und wieder würde Tag um Tag vergehen, während Tonio diese Übung immer und immer wieder sang, zuerst auf dem A, dann auf dem E, dann auf dem O, bevor er dann stets zum Accentus zurückkehrte.
Manchmal wurde es zehn Uhr abends, bis Guido ihn entließ.
Die Esclamazio verfolgte Tonio noch im Schlaf, und wenn er aufwachte, hatte er immer noch diese klaren Töne im Ohr.
Schließlich kam er zur ersten der Verzierungen.
Was Tonio bislang gelernt hatte, waren die Grundlagen der Atemtechnik und der Stimmbeherrschung. Außerdem hatte er gelernt, sich auf das, was er sang, genau zu konzentrieren.
Eine Melodie auszuschmücken war jedoch komplizierter. Es bedeutete nicht nur, daß er neue Töne oder Kombinationen von Tönen erlernen mußte, er mußte sich auch ein gewisses Gefühl dafür aneignen, wann er sie eigenständig zu einer Melodie hinzufügen mußte.
Die erste Verzierung, die er lernte, nannte sich Tremolo. Man ließ dabei einen Ton rasch an- und abschwellen, so daß er auf diese Weise in eine Folge von Einzeltönen aufgeteilt wurde.
Das bedeutete, man nahm einfach ein A und sang A A A A A.
Auch dies mußte wieder vollkommen kontrolliert und vollkommen flüssig geschehen, wobei die Töne zwar einer in den anderen übergingen, die Einzeltöne dabei jedoch noch deutlich herauszuhören waren.
Wenn ihn das dann geistig erschöpft hatte, wenn ihm das Tremolo mit einer gewissen Natürlichkeit gelang, ging er zum Trillo über. Dabei wechselte er schnell von einer Note zu einer höheren und wieder zurück, immer und immer wieder in einem einzigen langen Atemzug, so daß es wie ABABABAB-ABABABA klang.
Nach den langen Wochen, in denen er den Accentus und die langsame, üppige Esclamazio geübt hatte, machte ihm das tatsächlich großen Spaß. Seine Stimme zu beherrschen, Macht über sie auszuüben, empfand er allmählich als eine Herausforderung, die ihn ganz und gar fesselte.
Mit jedem Tag stellte sich die Phase, in der sich Tonio wie hypnotisiert in die Musik fallenlassen konnte, früher ein und schien länger anzudauern.
Er machte immer weiter. Er drängte voran.
Es wurde immer später.
Manchmal trat der Maestro di Cappella ins Zimmer und sagte ihm, daß es Zeit zum Aufhören wäre. Tonio ließ sich dann auf die Bank fallen, rollte seinen Hinterkopf an der Wand hin und her. Manchmal ließ Guido dann am Cembalo seinen Fingern freien Lauf. Üppige, perlende Töne erfüllten das Zimmer. Und während Tonio ihm zusah, fühlten sich sein Körper und seine Seele leer an.
Dann pflegte Guido zu sagen: »Verschwinde.« Und Tonio, ein wenig erschrocken und gedemütigt, ging nach oben, um sofort einzuschlafen.
Es schien, als würde Tonio niemals wieder Arien zu singen bekommen. Selbst die Zeit, in der er sich eigentlich mit Komposition beschäftigen sollte, wurde eingeschränkt, so daß er sich ganz seinen Gesangsübungen widmen konnte.
Wenn sich in Tonios Stimme aber nur das leiseste Anzeichen von
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