Falsetto
Anstrengung zeigte, hörte Guido unverzüglich auf.
Manchmal ruhte Tonio sich dann einfach aus, während andere Schüler von Guido unterrichtet wurden. Dabei fiel ihm auf, welche Fehler sie machten und wo ihre Grenzen lagen, über die sie überhaupt nicht oder nur sehr langsam hinauswuchsen.
Wenn Tonio bei diesen oder anderen Unterrichtsstunden zusah, tröstete es ihn, daß Guido diese Schüler ebensosehr zu verachten schien wie ihn. Manchmal tröstete ihn das. Manchmal fühlte er sich nur noch schlechter, und wenn Guido seine Schüler schlug, was oft vorkam, machte Tonio das wütend.
Eines Tages, nachdem Guido den kleinen Paolo, den Jungen, den sie aus Florenz mitgenommen hatten, geschlagen hatte, riß Tonio der Geduldsfaden. Er erklärte Guido rundheraus, daß er ein ungehobelter Flegel sei, ein Bauer, den man in einen feinen Rock gesteckt hätte.
Von all den Kleinen, die oft seine Zuneigung oder sogar sein Mitleid weckten, war es Paolo, den Tonio niemals ganz vergessen konnte. Paolo hatte sich unter Guido so sehr ins Zeug gelegt, wie er konnte. Er war von Natur aus ein Schelm, lachte und lächelte gerne. Es war mehr dieses Naturell, das ihm jetzt die Prügel eingetragen hatte, nicht die Tatsache, daß er sich irgend etwas hätte zuschulden kommen lassen. Tonio war weiß vor Zorn.
Guido aber lachte nur. Er führte Tonio in den letzten Höhepunkt aller früheren Lektionen ein, das Singen von Passagen: Es bedeutete, eine Notenzeile in viele einzelne Töne aufzubrechen, während man gleichzeitig den Wortsinn der Passage und dessen eigentliche thematische Reinheit unangetastet ließ. Guido gebrauchte das Wort Sanctus als Beispiel. Der Komponist hatte dafür vielleicht zwei Töne notiert, wovon der zweite höher als der erste war. Tonio mußte nun in der Lage sein, den ersten Ton, Sanc, in sieben oder acht Töne aufzutei-len. Diese Töne sollten von unterschiedlicher Länge sein, sich auf und ab bewegen, schließlich jedoch weich zur zweiten Note, dem tus, aufsteigen. Dieses mußte er dann ebenfalls mit sieben oder acht Tönen umspielen, um dann mit erfreulicher Endgültigkeit wieder zu dieser zweiten Note zurückzukehren und darauf zu schließen.
Diese Verzierungen und Passagen zu üben, wie Guido sie aufgeschrieben hatte, stand am Anfang. Dann aber mußte Tonio lernen, das nackte Gerüst einer beliebigen Komposition herzunehmen und seine eigenen Verzierungen zu erfinden, um es damit geschmackvoll und rhythmisch präzise auszufüllen. Er mußte wissen, wann er einen Ton anschwellen lassen sollte, wie lange er ihn halten sollte, ob er eine Passage in Töne von ungleichem oder gleichem rhythmischen Wert aufbrechen sollte und wie weit er sich von der ursprünglichen Note aufsteigend oder absteigend entfernen durfte. Und er mußte die Worte einer Kantate oder Arie zu jeder Zeit so deutlich artikulieren, daß die Bedeutung der Worte trotz all dieser erlesenen Verzierungen für jedermann klar war.
Das war im wesentlichen alles, was Guido Tonio beibringen konnte. Der Rest war Variation, Verfeinerung.
Normalerweise dauerte es fünf Jahre, bis ein Schüler dies meisterte. Guido hatte Tonio aus offensichtlichen Gründen sehr schnell vorankommen lassen: Tonio sollte sich nicht langweilen.
Er konnte sofort an allen Aspekten seiner Gesangstechnik arbeiten, und so begann Guido für ihn immer kompliziertere Vokalisen zu schreiben. Natürlich besaß er viele alte Lehrbü-
cher, die im letzten Jahrhundert und am Anfang seines eigenen Jahrhunderts verfaßt worden waren. Wie die meisten Gesangslehrer schrieb er jedoch seine Übungen lieber selbst, da er wußte, was Tonio am meisten brauchte.
Als Tonio sah, daß dies die Basis seiner Ausbildung war und daß das, was vor ihm lag, dazu diente, seine Stimme durch diese Übungen so zu vervollkommnen, daß sie so stark, so fest und so schön klang wie eine Reihe von perfekt gegosse-nen Glocken, die immer und immer wieder mit genau derselben Kraft angeschlagen wurden, legte er, am Cembalo sitzend, den Kopf in die Arme und brach in Tränen aus.
Er hatte das Gefühl, daß ihm erst jetzt klar wurde, was Schlaf oder Erschöpfung eigentlich bedeuteten, so müde war er geistig und körperlich. Es war ihm egal, ob Guido Maffeo ihn zornig ansah.
Er haßte Guido! Ebensosehr, wie Guido ihn haßte, sei's drum.
Er hatte geschworen, all das hier für sich selbst zu tun, zu seinem eigenen Vergnügen! Plötzlich bekam er Angst. Wenn er jetzt aufgab, was blieb ihm dann noch?
Es kam ihm so vor,
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