Falsetto
Fa, Sol, La«. Dann sollte er diese Töne mit einer komplizierten Verzierung singen, so daß das Ganze eine sanft ansteigende Melodie mit kleinen Aufwärts- und Abwärtsbewe-gungen wurde, wobei um jeden einzelnen Ton mindestens vier Noten gruppiert waren, drei davon aufsteigend und eine wieder absteigend.
Das Ganze war in einem Atemzug zu singen, wobei jedem Ton dieselbe Aufmerksamkeit gewidmet werden mußte.
Gleichzeitig mußten die Vokale perfekt artikuliert werden, und der Vortrag sollte absolut flüssig sein.
Dies sollte nun immer und immer wieder gesungen werden, Tag für Tag, in diesem stillen, leeren Zimmer, ohne Cembalo-begleitung, bis die Töne natürlich und gleichmäßig wie ein goldener Strom aus Tonios Kehle flossen, ohne einen Hinweis auf den Atemzug, den er zu Beginn gemacht hatte, oder darauf, daß ihm am Ende vielleicht die Luft fehlte.
Am ersten Tag glaubte Tonio, die ständige Wiederholung wür-de ihn um den Verstand bringen.
Am zweiten Tag aber, als er, überzeugt davon, daß diese Monotonie eine subtile Form der Folter darstellte, mit den Übungen begann, bemerkte er eine Veränderung. Es war, als hätte sein Zorn eine Blase geschaffen, die irgendwann an diesem Nachmittag zerplatzte. Die Haut dieser Blase fiel auseinander wie die Blütenblätter einer Knospe, und eine große Blüte erhob sich aus deren Mitte.
Diese Blüte war die Tatsache, daß die Töne, die Tonio sang, plötzlich eine hypnotische Anziehungskraft auf ihn ausübten, daß er mit ihnen schwebte und sich langsam und verschwommen bewußt wurde, daß er mit jedemmal, mit dem er wieder mit dem Accentus begann, einen neuen und faszinie-renden kleinen Aspekt davon in den Griff bekam.
Als die Woche schließlich zu Ende ging, hatte er den Überblick über die verschiedenen Probleme, die er löste, längst verloren.
Er wußte nur, daß sich seine Stimme vollkommen veränderte.
Immer wieder wies Guido ihn darauf hin, daß er Ut, Re und Mi liebevoller gesungen hatte als die anderen Töne. Liebte er sie denn mehr? Er mußte sie alle in gleichem Maße lieben. Immer wieder erinnerte Guido Tonio daran, Legato zu singen, also alle Töne sorgfältig und makellos miteinander zu verbinden.
Die Lautstärke spielte dabei keine Rolle. Der Ausdruck spielte keine Rolle. Aber jeder einzelne Ton mußte schön sein. Es war nicht genug, daß er ihn genau traf, der Ton selbst mußte so schön sein wie ein goldener Tropfen.
Dann lehnte er sich zurück und sagte: »Noch einmal von vorn«, und Tonio begann mit verschwommenem Blick und schmerzendem Kopf wieder mit dieser ersten Note.
Aber immer dann, wenn Tonio so erschöpft war, daß er am ganzen Körper ein Kribbeln verspürte, erlöste Guido ihn mit unfehlbarem Gespür und schickte ihn ans Stehpult, damit er dort ein paar Kompositionsprobleme oder einen mehrstimmi-gen Satz ausarbeitete.
»Du darfst nicht mehr am Schreibtisch sitzen. Es tut deinem Brustkasten nicht gut, wenn du vornübergebeugt dasitzt. Du darfst niemals, niemals etwas tun, das deiner Stimme oder deinem Brustkasten schadet«, sagte er. Und Tonio, dem die Beine weh taten, neigte nur den Kopf, dankbar dafür, daß er den Accentus für eine Weile aus seinem Kopf verbannen durfte.
Er wußte nicht, wie lange er diese elementare Passage bereits sang, als Guido schließlich oben und unten jeweils zwei Töne hinzufügte und ihm erlaubte, das Ganze etwas schneller zu singen. Vier neue Töne! Das war ein richtiges Ereignis! Tonio verkündete sarkastisch, daß er sich zur Feier des Tages jetzt wohl betrinken dürfe.
Guido ignorierte seine Bemerkung.
An einem heißen Nachmittag jedoch, als Tonio kurz davor war, aufzubegehren, gab Guido ihm plötzlich mehrere Arien, die ganz frisch komponiert und voller Veränderungen waren.
Tonio hatte sich die Notenblätter geschnappt, bevor er sich noch richtig bedankt hatte. Er hatte das Gefühl, unter einem sommerlichen Sternenhimmel ins warme Meer zu tauchen, und war mit dem zweiten Stück schon fertig, als ihm klar wurde, daß Guido selbstverständlich zuhörte. Gleich würde Guido sagen, daß er schrecklich war.
Also versuchte er jetzt, das, was er beim Accentus gelernt hatte, ganz bewußt anzuwenden. Da merkte er, daß er die ganze Zeit nichts anderes getan hatte. Er hatte mit einer neuen Geschmeidigkeit und Beherrschung gesungen, die ihm den unmittelbaren Zugang zur Musik unglaublich erleichterte.
In diesem Augenblick empfand er zum ersten Mal ein wirkliches Gefühl von Macht.
Als er zu seinen
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