Familienalbum
sie.
*
»Warum zum Teufel hast du was direkt am Teich versteckt?«, fragt Charles.
*
Alison weint. Das ist nicht wahr. Solche Dinge passieren einfach nicht. Nicht in dieser Familie, nicht ihr. Es ist alles eine grässliche Halluzination. Gleich wird sie wieder zu sich kommen, und die Kinder werden wieder herumrennen, und sie wird sie gleich hereinrufen, damit sie die Geburtstagstorte essen.
Dies also der Geburtstag, den jeder anders in Erinnerung behalten wird.
Gina wird sich daran erinnern, wie sie mit dickem Kopfverband nach Hause kam. Und es war gar nicht mehr ihr Geburtstag, der war längst den Bach runter, abgeschrieben, gelöscht. Es kam nie dazu, dass sich alle an den Geburtstagstisch setzten. Später, an einem anderen Tag, aßen sie die Torte, und Gina blies die Kerzen aus, aber das zählte nicht.
Es bildet sich eine Narbe seitlich an der Stirn, wo sie auf die Steineinfassung des Teichs geprallt war. Und es folgen weitere Klinikbesuche.
»Ein bedauerlicher Unfall«, sagt Alison. »Ein dummer, bedauerlicher Unfall. Sie ist ausgerutscht.«
Katie sagt: »Du kannst meinen Schatz haben. Alles. Ich hab ihn für dich aufgehoben.«
Ingrid sagt nichts. Noch nicht.
Paul wird sich daran erinnern, wie er Ginas Freundinnen hasste, diese zusammengluckenden, tuschelnden Mädchen. Er wird sich an die Männer vom Rettungsdienst erinnern, die wie Aliens aus dem Weltall durch den Garten marschierten. Er wird sich daran erinnern, wie er aus seinem Zimmerfenster sah, während die anderen in der Eingangshalle umhersausten und Ingrid rief: »Wir spielen jetzt ein Spiel – kommt rein, und wir spielen Reise nach Jerusalem.« Er wird sich daran erinnern, dass viele in die Küche schlichen und sich selbst an den Geburtstagsleckereien bedienten.
Alison wird sich an die Fahrt im Rettungswagen erinnern, an die Sirene, Ginas Gesicht, die Stimmen von Fremden, die Ärzte, die Krankenschwestern, den Krankenhausgeruch, die Liege, auf der Gina davongerollt wurde, das Warten, das Warten.
Corinna wird sich daran erinnern, wie sie die Eltern anrief: »Ich fürchte, die Geburtstagsparty musste abgebrochen werden – Gina hatte einen Unfall. Ob Sie wohl kommen und – äh – Sally abholen könnten?« Sie wird sich erinnern, wie Katie fragte, ob sie jetzt den Geburtstagskuchen essen könnten. Warum essen wir jetzt nicht den Geburtstagskuchen? Sie wird sich erinnern, wie sie dachte, jetzt bin ich mir ganz sicher. Ich werde keine Kinder kriegen, nie im Leben. Sie wird sich an die Ankunft besorgter Eltern erinnern, an den Aufbruch ihrer überdrehten Sprösslinge, an Ingrids Ausruf: »Oh, sie haben ihre Abschiedstüten nicht bekommen!«, an das schreiende Baby, an den Hund, den sie dabei erwischten, wie er in der Küche die bunten Häppchen hinunterschlang, an die spätere Rückkehr einer niedergeschlagenen Alison und eines gereizten Charles. Bis zu ihrem nächsten Besuch in Allersmead wird es eine Weile dauern.
Sandra wird sich erinnern, dass ihr schlecht war.
Charles wird sich erinnern, dass er zu Alison sagte: »Lass den verdammten Teich zuschütten.«
Katie, Roger und Clare werden sich an nichts erinnern.
Scherenschnitt
Wenn der Tag anbricht, wenn es immer heller wird, sich manche Bewohner Allersmeads auf die andere Seite drehen, die Augen zukneifen und den Kopf tiefer in das Kissen graben, um noch ein bisschen weiterzuschlafen (Sandra, Katie, Roger, Clare), und andere gähnen, zum Fenster oder auf den Wecker starren und sich wieder dem zuwenden, was sie gestern am meisten beschäftigt hat (Charles, Paul, Ingrid) oder einfach den Lebensfaden wiederaufnehmen (Alison, Gina), wenn dieser Frühlingsmorgen in Schwung kommt, dann sind die neun Hausbewohner äußerlich kaum ein paar Meter voneinander entfernt, innerlich aber, was Kopf und Herz angeht, ist der Abstand zwischen ihnen so groß wie zwischen Nord- und Südpol. Die Erwachsenen sind unfähig, sich in die Innenwelt eines Sechseinhalbjährigen, einer Zehnjährigen, eines Fünfzehnjährigen zurückzuversetzen. Die Kinder begreifen das Verhalten ihrer Geschwister intuitiv, haben aber im Großen und Ganzen nicht die leiseste Ahnung von den Gedankenlandschaften ihrer Eltern oder den Beweggründen, die sie steuern und motivieren. Die Erwachsenen bewahren sich die Intimität des täglichen Zusammenlebens, aber in anderen Dingen haben sie einander aus den Augen verloren – wie die meisten Menschen kennen sie einander in- und auswendig und zugleich überhaupt nicht.
So beginnt für
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