Familienalbum
alle der Tag, einer unter so vielen – zugegeben, einige aus der Familie haben schon mehr Tage auf dem Buckel als andere, Charles hat gerade die Fünfzehntausendermarke überschritten, bei Clare sind es bescheidene zweitausend und ein paar darüber. Ein Tag ist ein Tag ist ein Tag, aber manche schlagen härter zu als andere, was man um acht Uhr morgens noch nicht wissen kann. Dieser Tag scheint Gutes zu versprechen – ein blauer Himmel im frühen April mit ein paar dünnen Cirrusschleiern, die Sonne glänzt auf den Kastanienknospen, das Radio neben dem Ehebett kündigt Regenschauer in Nordschottland an, wendet sich dann aber rasch dringenderen Angelegenheiten zu, der Spezialeinheit, die zu diesen Inseln im Südatlantik unterwegs ist, und dem Krieg, der gleich beginnen wird. Vielen Menschen dort wird dieser Tag nicht besonders wohlgesonnen sein.
In Allersmead ist es einfach ein Tag wie jeder andere. Niemand hat Geburtstag, nichts Besonderes steht an. Einige der Bewohner haben Pläne. Charles beabsichtigt zu arbeiten; er hat in seinem Buch ein entscheidendes Stadium erreicht und möchte mit dem neuen Kapitel vorankommen. Sandra muss zum Friseur, unbedingt, in einen Jeansladen und zu einer Filiale von French Connection. Alison denkt gleich beim Aufwachen über ein Rezept für Zitronenhähnchen nach. Paul hat etwas vor, was ihm selbst nicht ganz geheuer ist. Ingrid denkt weniger, sondern brütet eher in einem grauen Nebel des Missmuts vor sich hin.
Clare sieht aus ihrem Zimmerfenster die glänzenden Kastanienknospen und den leuchtenden Rasen und verharrt einen Moment lang in Trance.
Gina hört in ihrem eigenen Radio, das sie zu Weihnachten bekommen hat, ebenfalls die Nachrichten und bildet sich eine Meinung.
Das Haus selbst hat etwa 43 000 Tage gesehen, seit es sich aus dem Lehm einer spätviktorianischen Baugrube erhoben hat. Es hat über ein Jahrhundert lang Frühstücke erlebt, hat Jahrzehnt um Jahrzehnt den Frühling ausgesessen, Menschen, die »Ach, schau mal, die Bäume schlagen aus« gesagt haben, Sonnenstrahlen, die in die Räume vorgestoßen sind, Motten, die in Gehröcke, Knickerbocker, Twinsets und heute in Alisons gute, besonderen Gelegenheiten vorbehaltene Tweedjacke gekrochen sind. Es hat viergängige, von Dienstmädchen servierte Mahlzeiten durchgestanden, die Ankunft des Kurbelgrammofons und des Radios, das Verschwinden der Dienstmädchen, den Siegeszug des Staubsaugers; es hat Geburten, den Tod und viel Sex gesehen. Das meiste ist nirgends festgehalten, das Haus behält seine Meinung für sich, macht keine Aussage zu Sturm und Drang , zu Gebrüll und Tränen, und ebenso wenig zu Gelächter, Ausgelassenheit, Hoffnungen. Es ist nur die Hülle, der Rahmen, das beständig Präsente, das Bleibende, wenn alles flüchtig Menschliche hindurchgezogen und verschwunden ist. Ein Triumph aus unerschütterlichen roten Ziegeln, schwarzen und weißen Fliesen, geschnitzter Eiche, Buntglas mit Lilien und Laubwerk. Es weiß nichts und will auch nichts wissen. Über seinen momentanen Marktwert würden seine Erbauer staunen, aber auch über so manches andere in dieser Gegend mit viel Grün, diesem provinziellen Vorort – über die Autos, die Frauen in Hosen, die Autos, die Männer ohne Hut, die Autos, das merkwürdige Gestrüpp aus Metall auf jedem Dach oder Kamin. Staunen, womöglich nicht ganz uneitel, würden sie vielleicht auch darüber, wie stur das Haus allen einschneidenden Veränderungen getrotzt hat. Es hat sich vom Zeitgeschmack verabschiedet, oder besser gesagt: über ihn erhoben. Es ist zwar mit einer bestimmten Zeit verhaftet, hat sich aber auch von ihr gelöst, an neue Gepflogenheiten und Lebensformen angepasst, hat sich eine Zentralheizung einverleibt, hat Waschmaschinen verkraftet, den Agnostizismus, das Frauenwahlrecht und schließlich Kinder, die man nicht nur sieht, sondern auch sehr deutlich hört. Das Haus wurde als Weihestätte des Familienlebens geschaffen und ist das bis heute geblieben, auch wenn das Familienleben selbst nun ganz anders aussieht.
Schon beim Aufstehen zeigen sich persönliche Eigenarten. Sandra badet ausgiebig mit Bliss Bubble Bath und blockiert das Bad viel zu lange. Paul wischt sich mit einem Waschlappen übers Gesicht und lässt es damit gut sein. Alison überlegt beim Duschen, wie viele die Ratatouille essen werden, wenn sie weniger Knoblauch nimmt. Charles schneidet sich beim Rasieren und erscheint beim Frühstück mit einem Fetzen Kleenex auf dem Kinn, worüber Clare
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