Familienalbum
kichern muss.
Ingrid macht sich eine komplizierte Flechtfrisur, deshalb kommt sie später herunter als sonst. Katie ist schon vor ihr unten, entdeckt in der Garderobe ein Hundehäufchen und putzt es weg, damit der Hund keinen Ärger bekommt.
Roger übt in seinem Zimmer Handstand, bis Alison ihn zur Eile antreibt. Gina hört Radio, während sie in die Jeans und den roten Pulli schlüpft, und beschließt, einen Protestbrief an Mrs. Thatcher zu schreiben.
Charles lebt nur zum Teil im Hier und Jetzt, was erklärt, warum er sich beim Rasieren schneidet (Alison plädiert schon seit Jahren für einen elektrischen Rasierer, aber Charles hat eben seine Vorlieben). Er ist mit seinem Buch beim zwölften Kapitel, in dem er sich mit archaischen Gesellschaften und ihren Übergangsriten in der Adoleszenz befasst. Das Buch selbst ist eine allgemeine Studie über die Jugendkultur, quer durch Zeit und Raum. Er ist damit sehr zufrieden. Er braucht nur noch wenige Monate daran zu schreiben, dann kommen das Polieren, der Feinschliff, das Nachrecherchieren der Fakten, zuletzt die Fußnoten, und ab damit zum Verlag. Danach kann er anfangen, über das nächste Buch nachzudenken, bisher nur eine Idee, die Glanz in seine Augen bringt: Charles will sich das Phänomen der Nostalgie vornehmen. Er ist stolz auf seinen Eklektizismus; er schreibt nie zweimal dasselbe Buch, sondern ist bekannt und angesehen wegen seines breiten Spektrums, seiner Fähigkeit, sich Neuem, Frischem zuzuwenden. Er ist nicht geschaffen für das Korsett einer Wissenschaftsdisziplin, für ein verstaubtes akademisches Etikett. Gott sei Dank. Er hat es einmal kurz an der Universität versucht und sich schnell wieder verabschiedet. Dank eines Paten, der Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts ein Vermögen mit Haushaltsreinigern gemacht hat, besitzt Charles das Polster bescheidener Kapitaleinkünfte – nicht gerade fürstlich, aber genug, dass sie mit Umsicht und dem, was die Bücher abwerfen, alle davon leben können. Vim, Dettol und Brasso sei Dank.
Heute Vormittag wird er sich also Gedanken über die Initiationsriten für junge Männer in Schwarzafrika und über die Pubertät in Samoa und auf Neuguinea machen; er überlegt, wie er die Diskreditierung Margaret Meads in den Text einbauen könnte, und merkt, dass ihm ein entscheidender Beleg fehlt. Das heißt, dass er heute Vormittag zur Bibliothek muss, anstatt sich gleich in seinem Arbeitszimmer zu verschanzen. Egal – er kann sich heute Nachmittag wieder an das Kapitel setzen. Ihm tropft Blut vom Kinn, was er allerdings kaum bemerkt, da er sich ganz auf seine Pläne für den Tag konzentriert.
*
Samstags frühstückt Charles immer mit seinen Kindern. Wochentags verwandelt sich die Küche beim allgemeinen Aufbruch zur Schule in einen Hexenkessel – verlegte Sporttaschen, vergessene Hausaufgaben, Hetze, Nervenkrisen; meist nimmt Charles seinen Toast und Kaffee und sucht damit Zuflucht im Arbeitszimmer. Am Wochenende aber bleibt er am oberen Ende des großen Tischs sitzen, liest Zeitung und schenkt von Zeit zu Zeit den Gesprächen, Meinungen, Berichten, Forderungen, Wortwechseln wohlwollende Beachtung.
Gina verkündet, dass sie diesen Krieg einen Irrsinn findet. Den Falklandkrieg. Wozu soll das gut sein, wenn die Leute sich gegenseitig wegen irgendwelcher Inseln mitten im Atlantik umbringen, wo sowieso niemand leben will, der noch alle Tassen im Schrank hat? Charles bemerkt, dies sei in der Tat ein Gesichtspunkt und nicht unvernünftig, aber da gebe es noch das Problem des internationalen Rechts, der staatlichen Souveränität.
Roger arbeitet in der Schule gerade an einem Projekt über die alten Griechen. Hat Charles ein Buch mit einem Bild vom Parthenon, das er kopieren könnte? Charles überlegt und antwortet, er glaube nicht, dass er eines habe. Da hast du diese ganzen Bücher und nichts mit dem Parthenon, empört sich Roger.
Clare erzählt der Tischrunde, dass sie einen Wackelzahn hat.
Katie sagt zu Roger, dass ihre Klasse dasselbe Projekt gemacht hat, und du musst nicht unbedingt den Parthenon haben, jeder andere alte Tempel tut’s auch.
Sandra muss unbedingt shoppen gehen. Sie braucht ein ärmelloses blaues Shirt. Und einen Haarschnitt. Fährt Alison sie in die Stadt?
Paul ist ziemlich schweigsam. Als er einmal um Brot bittet, schreckt Charles hoch wie jetzt so oft, wenn er die raue Stimme hört. Sein ältester Sohn mutiert, verwandelt sich in jemand anderen. Charles ist leicht überrascht, aber nicht
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