Familienalbum
sitzt Luke mit finsterem Gesicht daneben; für ihn zählt nur, dass er nächste Woche das Match verpassen wird.
Es ist halb sieben. Siedend heiß fällt Roger ein, dass heute Abend ja das Familientreffen stattfindet und er sich lieber schleunigst auf die Socken machen sollte, sonst kriegt er richtig Ärger. Er klopft Luke freundschaftlich auf die Schulter, verabschiedet sich von Lukes Mutter und rennt los.
Dass er Arzt werden will, weiß er, seit er ungefähr zehn war. Er fand Arzttermine schon immer toll und beobachtete in der Familie voller Interesse (und Mitgefühl) den Verlauf von Windpocken, Grippe, Insektenstichen, Kniewunden, Verbrühungen und Gerstenkörnern. Ihm fiel auf, wie Kerngesunde, die eben noch munter herumliefen, im nächsten Augenblick flachlagen, von diesem oder jenem dramatisch niedergestreckt; doch dagegen ließ sich etwas unternehmen. An diesen Vorgängen wollte Roger Anteil haben. Der Wunsch, Menschen zu helfen und sie wieder gesund zu machen, spielte durchaus mit, genauso spannend aber war für Roger das faszinierende Zusammenspiel von Ursache und Wirkung. Er wollte sehen, was bei Krankheit und Verletzung eigentlich abläuft, und selbst austüfteln, wie sich dem Übel ein Schnippchen schlagen ließ. Biologie wurde sein Lieblingsfach; am Ende der Mittelstufe hatte er die Segel schon gesetzt und hielt Kurs aufs Medizinstudium. Mit Glück und harter Arbeit wird in ein paar Jahren er der Typ im weißen Kittel sein und in der Notaufnahme mit seinem Fachwissen glänzen.
Er rast die Eingangsstufen hoch, ins Haus. Essensgeruch, Stimmen aus der Küche – Hilfe! Haben sie schon angefangen? Ein wenig verstohlen öffnet er die Küchentür und sieht, dass alles in Ordnung ist. Der Tisch ist noch nicht einmal gedeckt. Nur Katie ist hier und Ingrid; Mum rührt am Herd in einem Topf herum. Als sie Roger hört, dreht sie sich hastig um, und ihre Mundwinkel sacken nach unten.
»Ach, du bist’s, Schatz«, sagt sie.
*
Als Sandra ankommt, sieht sie Roger die Stufen hochsausen. Sie vergisst Roger oft. Und Katie. Sie hat die beiden damals nur am Rande wahrgenommen, war an ihnen nur interessiert gewesen, wenn man sie als Mitspieler brauchte. Und jetzt ist Roger größer als sie und spricht mit einem rauen Männerbass.
Sie lässt sich Zeit und knipst die Innenleuchte an, um ihr Make-up aufzufrischen. Sie ist sehr zufrieden mit ihrem Auto, natürlich ein Gebrauchtwagen, aber mit einer hübschen MetallicblauLackierung, Schiebedach, Radio und Kassettenrekorder. Sie kann sich die Raten kaum leisten, aber was soll’s. Sie wird bei der Zeitschrift um eine Gehaltserhöhung bitten. Die Redakteurin mag sie; vielleicht darf sie nächsten Frühling sogar über die Pariser Modeschauen berichten.
Allersmead ist für Sandra am Verblassen. In ihrer jetzigen Umgebung scheint Allersmead weit weg, ein Paralleluniversum, wo man alles ganz anders macht, ein Ort, wo man keine Ahnung von der Modewelt hat, vom pulsierenden Leben in einer umtriebigen Redaktion, von Shootings und Reisen und Hektik, Hektik, Hektik. Letztes Weihnachten hat sie einmal ein Heft mitgebracht. Ihre Mutter hat es sichtlich beunruhigt beäugt, ein paar Seiten umgeschlagen und gesagt: »Du lieber Himmel, sind diese Mädchen dünn .« Ihr Vater hat es in die Hand genommen, das Cover angestarrt und das Heft wieder hingelegt. Ingrid hat gesagt: »Diese Kleider sind seltsam – ich könnte sie nicht tragen, aber in London ist es wohl anders.« Clare hat gesagt: »Wow!«
Gina hat das Heft rasch durchgeblättert. Mit gekräuselter Oberlippe? »Nicht deine Szene«, sagte Sandra. »Ich würde mir an deiner Stelle nicht die Mühe machen. Wie läuft’s bei Radio Swindon?«
Sandra tuscht sich die Wimpern. Sie wirft flüchtige Blicke auf das Haus. Allersmead erstrahlt in Licht. In ihr mag es verblasst sein, aber in seiner Umgebung ist es noch quicklebendig. Jemand geht hinter dem Wohnzimmerfenster vorbei, wer, kann sie nicht erkennen. Sind sie alle gekommen? Ist Gina da?
Gina und ich, denkt sie, wir sind wie Feuer und Eis. Hund und Katz. Schwestern? Nur theoretisch. Eher Gegenpole. Rivalinnen. Alles, was sie mochte, mochte ich nicht. Über alles, was ich gemacht habe, hat sie die Nase gerümpft. Im Grunde ist es immer noch so, aber das spielt keine Rolle mehr. Wir müssen nicht mehr zusammenleben.
Sie fährt sich noch einmal durch die Haare, steigt aus dem Auto, holt aus dem Kofferraum ihre Übernachtungstasche und die Blumen für Mum – ein Strauß von Harrods
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