Familienalbum
los, mehr als genug.
Jetzt sieht sie die weißen Torpfosten – Allersmead. Sie kann es fast schon riechen, anheimelnde Küchendüfte, in der Eingangshalle den Geruch von Regenmänteln, dazu eine Prise Hund und etwas Undefinierbares, einfach der typische Allersmead-Geruch, ausgedünstet vom Holz, von den Steinfliesen, dem Buntglas und den Menschen.
Sie steigt die Stufen hoch und drückt die Eingangstür auf. Der Hund erhebt sich schwerfällig und begrüßt sie mit einem Schwanzwedeln.
Ingrid kommt die Treppe herunter.
»Hi!«, sagt Katie. »Sind die anderen schon da?«
»Du bist die Erste«, antwortet Ingrid. »Außer natürlich Roger und Clare, die sowieso hier sind. Gut, dass du gekommen bist. Charles ist hinausgegangen, wohin, weiß ich nicht. Alison ist in der Küche. Ich glaube, sie weint.«
*
Clare hört die Eingangstür ins Schloss fallen. Jemand ist gekommen, einer von ihnen. Aber sie ist gerade beschäftigt und kann nicht hinuntergehen. Sie hebt das rechte Bein und stützt die Zehen leicht gegen das Kaminsims. Dann das linke Bein. Wieder und immer wieder. Sie beugt sich ganz langsam immer weiter zurück, lässt die Arme dabei nach unten hängen, bis die Hände auf dem Boden aufliegen, und verharrt in der Brücke, bis sie bis zehn gezählt hat. Sie übt Spagat. Wieder und wieder. Und noch ein paar.
Als sie mit dem Training fertig ist, betrachtet sie sich im Spiegel. Von der Seite. Sie ist dünn, aber bei Weitem nicht dünn genug. Da gibt es eine Andeutung von Po, eine winzige Bauchwölbung. Was soll sie bloß machen? Sie hat versucht, sich fast ausschließlich von Salat zu ernähren, bis Roger sie darauf aufmerksam machte, dass Tänzer Muskeln brauchen und man mit einer Hungerdiät keine Muskeln aufbaut. Deshalb isst sie jetzt, wenn auch äußerst wenig. Angewidert mustert sie ihren Körper.
Sie weiß, was sie will. Sie hat ein Ziel, ein Wunschbild. Sie hat im Fernsehen das Frankfurter Ballett gesehen, und dieser Moment hat ihr Leben verändert. Diese biegsamen, androgynen Gestalten, scheinbar knochenlos, Schnurstücken gleich; diese Tänze, die anders waren als alles, was sie bisher gesehen hat – überraschend, kapriziös, blindwütig erfinderisch. Sie hatte nicht gewusst, dass Tanzen so sein kann. Welten entfernt vom Nussknacker zu Weihnachten am South Bank, von den Tanzkursen samstags im Freizeitzentrum. Wo lernt man tanzen wie ein Stück Schnur? Wie macht man seine Knochen weich?
Im Haus herrscht eine Dauerdiskussion über die Frage, ob Clare Ende des Jahres die Schule verlassen und auf die Ballettschule gehen darf. Dad rollt nur mit den Augen und seufzt. Mum sieht sie im Tutu in Schwanensee umherflattern und sagt, Ballett ist natürlich etwas Entzückendes, aber sind die nicht mit dreißig ziemlich am Ende? Ingrid sagt, Tanzen ist schön, aber da gibt es auch noch den Schulabschluss und das Studium.
*
Roger ist nicht in Allersmead, sondern in der Notaufnahme des nächsten Krankenhauses. Er hatte ein Wahnsinnsglück: Am Nachmittag, als sie gegen eine andere Schule Rugby spielten, ist ein Spieler seinem Freund Luke auf die Hand getreten, mit voller Wucht, wahrscheinlich ist sie gebrochen. Da konnte Roger vorspringen und sich erbieten, Luke ins Krankenhaus zu begleiten, was für ihn bedeutete, dass er ein paar spannende Stunden lang das Geschehen in der Notaufnahme beobachten konnte. Er bekam einen Autounfall mit (einen Mann mit Kopfverletzung, eine Frau mit Schnittwunden), ein paar Verbrennungen, ein Missgeschick mit einem elektrischen Heckenschneider und mehrere Leute, die einfach krank aussahen und über die er gern mehr erfahren hätte. Sein Interesse ist vor allem medizinisch, aber er fühlt auch mit. Er sehnt sich danach, hinter die Vorhänge zu den Medizinern zu gehen und wirklich etwas zu lernen, bei einer Untersuchung zuzusehen, selbst begutachten, eine Diagnose stellen zu dürfen. Eine Chance dazu bekommt er aber nur, als Luke an der Reihe ist und an einen lebhaften jungen Assistenzarzt gerät. Der lässt sich von Roger ins Gespräch verwickeln und zeigt ihm Lukes Röntgenaufnahme, in die der wissbegierige Junge sich vertieft. Es liegt kein Bruch vor, was die Sache noch interessanter gemacht hätte, aber massive Quetschungen und Schwellungen. Luke hat inzwischen die Schnauze gründlich voll und nimmt Roger seine unverblümte Begeisterung über den Verlauf des Nachmittags ziemlich übel. Als seine Mutter eintrifft und Roger überschwänglich für seine fürsorgliche Begleitung dankt,
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