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Familienalbum

Familienalbum

Titel: Familienalbum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Lively
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Roger.
    Stefan lächelte. » Dankeschön. Das ist ja sehr freundlich. Vielen Dank.«
    Roger sah ihn entsetzt an. In seiner letzten Deutscharbeit hatte er eine Drei minus gehabt, und Konversation war schon gar nicht drin.
    Stefan machte eine Geste, als wollte er sich entschuldigen. »Ich dachte, du solltest vielleicht üben. Ein anderes Mal. Danke für das obere Bett.« Er packte seine Tasche aus, aus der minutiös zusammengefaltete Kleidungsstücke und ein Kulturbeutel voller mysteriöser Toilettenartikel zum Vorschein kamen. Roger zeigte ihm das Bad und erlebte zum zweiten Mal, wie ihm alles in einem neuen, verstörenden Licht erschien: Er sah die Stange, umwunden von Handtüchern wie von Girlanden, sah den zerrissenen Duschvorhang, die von Sandras Kosmetikprodukten überquellende Ablage, den Halter, aus dem ein Zahnbürstenwald hervorspross, die über den Badewannenrand drapierten Waschlappen, die Plastikenten hinter den Wasserhähnen (du lieber Himmel, wer spielte denn noch mit denen?). Das Klo. O Gott, das Klo. Roger roch den schrecklichen, uralten, feuchten Muff und merkte, dass der Stefan ebenfalls in die Nase stach. »Das ist das Bad«, sagte Roger mürrisch.
    Beim Abendessen stellte sich heraus, dass Stefan ein Einzelkind war.
    »Schwein gehabt«, sagte Paul.
    »Also wirklich!«, rief Alison. »Paul meint das nicht so«, sagte sie zu Stefan.
    Stefan nickte höflich. »Schwein gehabt?«, erkundigte er sich. »Den Ausdruck kenne ich nicht.«
    Charles legte sein Besteck nieder. »Eine umgangssprachliche Wendung. Gilt im Allgemeinen als vulgär. Der Gesprächsstil meines Sohns wird dir reichlich Gelegenheit bieten, die Niederungen unserer Sprache zu studieren.«
    Wieder nickte Stefan, mit unergründlichem Gesicht.
    Paul sagte: »Danke, Dad. Ist doch immer schön, wenn man behilflich sein kann.«
    Alison runzelte die Stirn und wandte sich Stefan zu. »Du wirst feststellen, dass das Leben in einer großen Familie ein bisschen anders ist. Wir lernen alle, Zugeständnisse zu machen, nicht wahr?« Sie blickte in die Runde.
    »Nicht so, dass man davon was merken würde«, sagte Sandra. »Gibt’s noch mehr, Mum?«
    Alison stand auf. »Das war nicht sehr nett, Schatz. Gib mir deinen Teller. Aber fragen wir erst, ob Stefan noch etwas möchte.«
    Stefan sagte, er habe genug, vielen Dank.
    Clare sagte: »Können wir nicht mal was essen, was schlank macht? Würstchen im Schlafrock sind die reinste Kohlenhydratbombe.«
    Gina sagte: »Als Zehnjährige solltest du gar nicht wissen, was Kohlenhydrate überhaupt sind.«
    Clare sagte: »Ich werd so dick, dass ich nicht mehr in den Handstand hochkomme.«
    Paul sagte zu Gina, er gehe später ins Pub, und vielleicht wolle sie ja mitkommen und ihm einen ausgeben.
    Katie fragte, ob jemand ihren roten Geldbeutel gesehen habe; der lag doch auf der Kommode, da sei sie ganz sicher …
    Stefan fragte: »Würstchen im Schlafrock ?«, aber niemand hörte ihn.
    Roger richtete den Blick auf Stefan und sah einen dunklen, eindringlichen, präsenten Beobachter. Er richtete den Blick auf seine Familie und sah alle durcheinanderreden; Ingrid teilte Mum mit, dass es wieder mal kein heißes Wasser gebe, Dad fragte, wer die Zeitung vom Dielentisch genommen habe, und der Betreffende möge doch so freundlich sein, sie wieder zurückzulegen. Roger überkam die schreckliche Gewissheit, dass Alison vorschlagen würde, er solle doch nach dem Abendessen mit Stefan eine Partie Scrabble spielen.
    *
    Roger starrte auf das Brett. Er hatte noch vier Buchstaben übrig, und das einzige Wort, das er daraus zusammensetzen konnte, war fuck . Die allersmeadschen Hausregeln verboten jede Obszönität, aber Stefan kannte die allersmeadschen Hausregeln nicht. Stefan war am Gewinnen – wahrscheinlich hatte er schon gewonnen –, aber fuck würde Roger siebenundzwanzig Punkte einbringen und damit eine kleine Chance, in Führung zu gehen. Roger war keiner, der um jeden Preis gewinnen musste, aber bei Scrabble konnte jeder zum Tier werden, und Roger wollte sich nicht von jemandem schlagen lassen, für den Englisch nicht einmal die Muttersprache war – eine schmachvolle Schlappe. Seine Hand schwebte über den Buchstaben, dann nahm er sie einen nach dem anderen und legte sie aufs Brett.
    Stefan studierte das Ergebnis. Er hatte bereits erwähnt, dass er zu Hause ab und zu mit seinen Eltern Scrabble spielte, auf Englisch, nur so zum Spaß ( Spaß? , dachte Roger entgeistert). Er sagte: »Bei meiner Familie ist dieses Wort nicht

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