Familienalbum
vorzustellen, ein Fixpunkt auf der Reiseroute. Ein paar Tage in London, dann eine Übernachtung in Allersmead. Roger sieht dem Ereignis leicht beklommen entgegen. Man kann nie wissen, wie Dad sich einem Gast gegenüber verhalten wird. Außerdem hat Roger mit Susan nie darüber gesprochen, wer Clares Eltern sind. Erst konnte er sich nicht dazu durchringen, dann hat er es vergessen, dann wieder geschwankt, die ganze Fahrt bis zur Haustür von Allersmead, wo sie nun stehen. Jetzt ist es zu spät.
Bei der Ankunft geht alles glatt. Alison ist überschwänglich, Charles liebenswürdig, Ingrid hat zum Tee einen Kuchen gebacken und in den Guss ein Ahornblatt gedrückt. Jemand hat ihr gesagt, das sei Kanadas Emblem. Susans Entzücken ist nicht nur Ausdruck von Höflichkeit, sondern kommt von Herzen. Alison strahlt. Sie hat zugenommen, bemerkt Roger, und früher hätte sie den Kuchen sicher selbst gebacken und nicht Ingrid. Gibt sie etwa die Zügel aus der Hand?
Nicht ganz, wie es scheint. Das Abendessen wurde von ihr kreiert. Die Küche von Allersmead ist mit der Zeit gegangen; es gibt kein B œ uf Bourguignon oder Stroganoff mehr, sondern als Vorspeise einen raffinierten Salat mit Rucola und Ziegenkäse, danach Seebarsch mit viel Schnickschnack, und zur Abrundung ein Zitronensorbet. Wieder hält sich Susan mit ihrem Beifall nicht zurück; sie und Alison vertiefen sich in ein Gespräch über Kochfinessen, was Susan, wie Roger weiß, viel Wohlwollen einbringen wird.
Charles ist recht schweigsam geworden. Schließlich platzt er beim Austausch von Küchentricks dazwischen und fragt Susan, ob sie aus Hongkong oder Taiwan komme. Susan, von Kopf bis Fuß Kanadierin, trägt dies mit Fassung und antwortet, sie sei aus Toronto; Roger windet sich. Er hat den Verdacht, dass Charles genau über Susans Herkunft Bescheid weiß und sie nur provozieren will. Alison, die den Moment der Anspannung nicht bemerkt, ist sehr erpicht darauf, zum Thema Kochen zurückzukehren, und fragt Susan, ob sie Filoteig verwendet. Susan antwortet, dies sei ihr nie so recht gelungen, und fragt, ob Alison gern Waffeln bäckt. Es zeichnet sich ab, dass bald ein paar Rezepte ausgetauscht werden. Roger seufzt vor Erleichterung und nimmt sich vor, Susan später ein Kompliment zu machen, weil sie sich seinem Vater gegenüber so tapfer geschlagen hat.
Roger findet es sehr merkwürdig, ohne seine Geschwister hier zu sein. Das Haus scheint ihm sowohl leer als auch voller Geister, eine Kakofonie von Stimmen aus der Vergangenheit, den Stimmen sämtlicher Geschwister jeden Alters. Die dreizehnjährige Gina lässt sich über den Falklandkrieg aus, Katie kommt türknallend in die Küche und lässt die Schultasche auf den Boden fallen, eine Clare im Teenageralter dreht in der Eingangshalle Pirouetten. Er teilt dies Alison mit, was einen Sturm an Erinnerungen entfacht, dem ein Tornado neuester Meldungen folgt: Gina war im Irak , stell dir vor, jeden Abend in den Nachrichten. Sandra managt eine Boutique in Rom, Clares Tanzcompagnie tourt durch Deutschland – sie hat ein wunderbares Foto geschickt, ich zeig’s dir später, Katie hast du ja vor Kurzem gesehen, wie ich weiß, ein Jammer, dass es mit einem Baby nicht klappt.
»Und Paul?«
Alison sagt, dass Paul im Moment nicht da ist. Näher geht sie nicht darauf ein.
Später zeigt Alison beim Kaffee im Wohnzimmer Sandras Postkarten aus Ischia herum, wo sie mit einem Freund Urlaub gemacht hat, und Clares Pressefoto, mitten im Flug, im Pas de deux mit einem Partner, ätherisch dünn, unfassbar biegsam, das glatte, strohblonde Haar zu einem Knoten zurückgebunden. Susan betrachtet das Foto sehr interessiert.
Schließlich ist der Abend vorüber. Roger und Susan ziehen sich ins Gästezimmer zurück und legen sich dankbar ins Bett. Roger entspannt sich – es war gar nicht so übel, hätte viel schlimmer kommen können. Essen und Wein haben ihn in eine behagliche Stimmung versetzt und lösen ihm die Zunge – vielleicht der richtige Moment, um den kleinen Ausrutscher im Leben von Allersmead zu erläutern.
*
»Willst du damit sagen, dein Vater hat das Au-pair-Mädchen gefickt?«
Roger schließt kurz die Augen. So hat das noch niemand ausgedrückt, auch er selbst nicht. Das ist zu flapsig, zu vulgär, zu … nun ja, zu treffend. Er erwidert nichts darauf.
Susan ist nicht unsensibel, bemerkt ihren Tritt ins Fettnäpfchen und macht sich Vorwürfe. Sie dreht sich zu Roger, legt ehrliches Bedauern in ihr Gesicht, und das Tief
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