Familienalbum
pinkeln. Wecke ich jemanden auf, wenn ich ins Bad gehe?«
»Nein. Das Schlafzimmer meiner Eltern ist am anderen Ende des Hauses. Und Ingrid schläft im Dachgeschoss.«
Sie tappt aus dem Zimmer, ohne das Licht anzumachen. Er hört das Schließen der Badtür, dann das gedämpfte Rauschen des alten Wasserkastens. Susan kehrt zurück und kuschelt sich an Roger. »Ich bin ganz verliebt in dieses Klo. Mit Zugkette und Kugel. Können wir bei uns auch so eins einbauen lassen? Gibt’s in Recyclinghöfen.«
»Nein«, sagt Roger. Nach einer kurzen Pause spricht er weiter. »Als ich dreizehn war, haben mich meine Eltern für einen Austausch mit einem gleichaltrigen deutschen Schüler angemeldet.«
»Auf Dauer?«, ruft Susan entgeistert.
»Nein, nein. Nur für einen Monat oder so. Das war damals gang und gäbe. Um die Kenntnisse in Deutsch oder Französisch oder was auch immer zu verbessern und umgekehrt. Und um eine andere Kultur zu erleben.«
»Keine schlechte Idee.«
»In unserem Fall hat es nicht funktioniert. Der deutsche Junge ist nach einer Woche wieder abgereist. Er fand den englischen Lebensstil unerträglich, zumindest in seiner allersmeadschen Ausprägung. Und seine Eltern gaben uns so höflich wie möglich zu verstehen, dass sie nicht mehr erpicht darauf seien, mich aufzunehmen.«
»Schade.«
»Ach, ich war wahnsinnig erleichtert. Ich erzähle dir das nur, damit du siehst, dass nicht alle Besucher die Exotik meiner Familie schätzen. Manche sind schlichtweg schockiert.«
»Was ist denn passiert?«, fragt Susan und gähnt wieder. »Was ist schiefgelaufen?«
»Das lassen wir jetzt lieber. Und schlaf nicht ein.« Er schiebt ihr T-Shirt hoch und streicht ihr über den Schenkel. Sie protestiert mit einem leisen Laut, der aber nur ein Scheinprotest ist. Gleich darauf müssen sie wie vor ihnen Gina und Philip die Entdeckung machen, dass die Bettfedern im Gästezimmer von Allersmead höllisch quietschen.
*
Der deutsche Austauschschüler war kleiner als Robert, ein dunkelhaariger Junge mit großen Augen, die offensichtlich alles registrierten und noch einiges darüber hinaus. Makellos gekleidet stieg er aus dem Zug, nach einer Fahrt, bei der er mehrfach hatte umsteigen müssen, und begrüßte Alison in einem ebenso makellosen Englisch. Er hatte eine gute Reise gehabt, vielen Dank – seine Eltern hatten ihn instruiert; er hielt Alison zwei eng mit Schreibmaschine beschriebene Blätter hin. Nein, im Moment war er nicht hungrig, vielen Dank; er hatte den Reiseproviant, den ihm seine Mutter mitgegeben hatte, eben erst aufgegessen. Er schüttelte Roger die Hand und sagte, sie würden gute Freunde sein. Roger erwiderte das Händeschütteln ziemlich schlaff und war sich nicht so sicher.
»Er ist reizend«, sagte Ingrid später. Roger bezweifelte, dass er selbst jemals als reizend bezeichnet worden war, und starrte aus dem Fenster. Alison führte Stefan im Garten herum, und der Junge zeigte sich auffallend beflissen. Von Zeit zu Zeit deutete er fragend auf eine Pflanze oder besah sich einen Baum. Stefan verstand es offensichtlich, Erwachsene einzuseifen, und brauchte dazu nicht einmal seine eigene Sprache. Er wirkte nicht wie dreizehn, sondern wie dreißig. Oder hundertdreißig. Unentwegt höflich, wandte er Alison oder Ingrid sofort, wenn sie ins Zimmer traten, seine Aufmerksamkeit zu; er bat Charles um Rat, welche englischen Bücher er lesen sollte.
»Was ist denn das für ein kleiner Fiesling, den du da angeschleppt hast?«, fragte Paul, als er vom College zurückkehrte.
»Ich habe ihn nicht angeschleppt«, knurrte Roger. »Und halt bloß die Klappe. Er spricht besser Englisch als wir.«
Stefan sollte mit Roger das Zimmer teilen. Am ersten Abend stand er in der Tür und starrte auf die Berge von Jeans, Pullis, T-Shirts, den stinkenden Haufen Sportschuhe, die Fensterbretter mit Rogers Sammlung an Raupen, die in Schraubgläsern umherkrochen, das Poster mit der Meeresküstenfauna, die zerrissene Tapete, den Teppich, der im Lauf der Jahre geduldig Limonade, Milch, Cola und andere Flüssigkeiten geschluckt hatte. Auf Alisons Druck hin hatte Roger sogar aufgeräumt. Er fand, sein Zimmer sehe ziemlich gut aus, aber nach einem verstohlenen Blick auf Stefan sah er es einen Moment lang mit neuen Augen, sah, dass es nicht bestehen konnte. Stefans Miene spiegelte komplexe Gefühle: rasch unterdrückte Bestürzung, dann Resignation. Er betrachtete das Stockbett.
»Du kannst oben schlafen, wenn du magst«, sagte
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