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Familienkonferenz in der Praxis

Familienkonferenz in der Praxis

Titel: Familienkonferenz in der Praxis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Gordon
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achtjährigen Sohn, der das Gefühl hatte, sein Leben sei scheußlich und dass er »lieber tot wäre«.

    »Meine Geschichte ist schnell erzählt. In der Rückschau erscheint mir das alles so einleuchtend, dass ich immer noch nicht begreifen kann, wieso mir nicht schon vorher klargeworden ist, was ich da anrichte. Aber ich musste erst die ›Familienkonferenz‹ und vor allem das aktive Zuhören kennenlernen.
    Als ich am Kursus teilnahm, machte mein ältestes Kind, ein achtjähriger Junge, häufig Bemerkungen, die besagten, dass er das Leben scheußlich fände und dass er lieber tot wäre. Es waren schwer wiegende Äußerungen, die mich mit tiefer Sorge erfüllten. Denn bei der Erziehung meiner Kinder war stets mein oberstes und vorrangigstes Ziel gewesen, ihnen eine positive Einstellung zu sich selbst zu vermitteln. Sie sollten morgens
mit dem Gefühl erwachen, dass es schön sei zu leben; hätte ich mich in erster Linie um irgendwelche anderen Aspekte ihrer Entwicklung gesorgt – um intellektuelle Fähigkeiten, ›ordentliches‹ Verhalten oder sonst etwas hätte mich diese Entwicklung vielleicht nicht so hart getroffen. Aber nun schien mein ältestes Kind und einziger Sohn eine Einstellung zu besitzen, die sich als das genaue Gegenteil dessen erwies, was ich so sehr hoffte. Ich hatte mir wirklich Mühe gegeben, ihm eine andere Einstellung zu vermitteln.
    Als die Kursleiter die Liste der Kommunikationssperren einführten, lachte ich wie alle anderen. Im Geiste hörte ich mich all diese ›Hindernisse‹ verwenden und sah sofort, für welche ich eine besondere ›Schwäche‹ hatte. Ich lernte aktives Zuhören kennen und übte es gewissenhaft mit anderen Kursteilnehmern. Aber ich zählte zwei und zwei nicht zusammen; die Lösung lag auf der Hand, und ich sah sie nicht. Ich sah sie nicht, bevor ich es nicht mit dem aktiven Zuhören probierte. Ein paar Wochen später kam mein Sohn niedergeschlagen in die Küche. Ich bereitete das Abendessen vor. Er ließ eine seiner deprimierenden Äußerungen fallen. Ich hatte damals noch kein besonderes Geschick im aktiven Zuhören. Die wenigen Versuche, die ich bislang zu Hause unternommen hatte, hatten lächerlich geklungen. Ich entschloss mich aber, den Versuch erneut zu wagen. Er hatte so etwas gesagt wie: ›Ich kann wirklich nichts Besonderes an meinem Leben finden.‹ Es arbeitete in meinem Kopf beim Versuch, diese Worte in eine Äußerung umzuformen, die als Rückmeldung dienen konnte. Schließlich sagte ich irgendetwas, das mir völlig ungeeignet erschien, so etwas wie: ›Hört sich an, als ob du wirklich niedergeschlagen bist.‹ Er schien meine Unfähigkeit nicht zu bemerken, sondern meinte: ›Niemand kümmert sich um mich.‹ Er fügte hinzu: ›Du und Papa, ihr kümmert euch immer nur um Jennifer und Rebecca‹ (seine Schwestern). So ging es weiter. Ich dachte: ›Das ist das deprimierteste Kind, das ich jemals gesehen habe.‹ Zugleich fühlte ich mich schuldig, ärgerlich und frustriert. Ich versuchte es aber weiter und sagte: ›Hm, darüber bist du ganz schön traurig‹ und ›Du glaubst, wir mögen sie lieber als dich‹. Das klang alles scheußlich gekünstelt. Ich hatte
kaum Hoffnung, dass uns eines jener Happyends beschieden sein sollte, von denen in der ›Familienkonferenz‹ so häufig die Rede ist. Er sagte überhaupt keine ›lösungsorientierten‹ Dinge wie die Kinder im Buch. Stattdessen kramte er immer entmutigendere Erinnerungen aus. Dabei griff er sogar auf Ereignisse zurück, die fünf Jahre zurücklagen.
    45 Minuten später sagte ich, dass ich das Gespräch sehr gerne fortsetzen würde, dass ich mir aber Sorgen machte, mich mit dem Abendessen zu verspäten. Ob es ihm recht wäre, wenn wir das Gespräch später fortsetzen würden. Er sagte Ja. Er habe alles gesagt. Darauf hüpfte er vom Stuhl und ging pfeifend nach draußen! Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Dann kam mir die Erleuchtung. Ich hatte dem Kind niemals gestattet, einen schlechten Tag zu haben! Für die geringste unglückliche Regung war stets eine Erklärung zur Hand gewesen. Immer wusste ich Abhilfe. So blieb er an jede dieser Gefühlsregungen gefesselt. Niemals hatte ich ihm das einfache menschliche Mitgefühl entgegengebracht, das ihm ermöglicht hätte, sich von ihnen zu befreien. Das war vor einem Jahr. Seither sind diese Depressionen – soweit ich es erkennen kann – ausgeblieben. Es hat unerfreuliche oder entmutigende Auftritte gegeben. Heute versuche ich aber nicht mehr,

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