Familienpakt: Kriminalroman (German Edition)
durch die breiten, hellen Flure und Gänge des Klinikums musterte Keller seinen Begleiter daher umso intensiver und versuchte, aus Haltung und Mimik des Arztes Rückschlüsse auf seinen Charakter zu ziehen: Bartels war eine aufrechte Erscheinung, die Keller um Kopfeslänge überragte. Er hatte einen dunklen Teint, der ebenso für einen kürzlich genossenen Urlaub wie für regelmäßige Besuche im Solarium sprechen konnte. Die Gesichtshaut selbst wies eine Vielzahl kleiner Pocken- oder Aknenarben auf, die aber nur aus der Nähe zu sehen waren und seinem guten Aussehen nicht schadeten. Die schwarzen Haare trug er im Nacken bis knapp über dem Kragen seines Arztkittels, sie waren gescheitelt und an seinen Schläfen grau meliert. Die Nase wies einen leichten Bogen auf, der Mund dünne, ein wenig spröde Lippen.
Am meisten beschäftigten Keller die Augen: dunkelbraun, intensiv und neugierig blickend, ständig in Bewegung. Als wären sie fortwährend auf der Suche? Oder auf der Flucht? Wichen sie Kellers Blicken etwa aus?
Sie hatte ihre liebe Not damit, ihren Chef davon abzubringen, in blinden Aktionismus zu verfallen: »Wir müssen nicht nach dem wichtigsten Mann im Klinikum suchen«, redete Jasmin Stahl beschwörend auf Hauptkommissar Schnelleisen ein, »sondern nach dem Erpressbarsten.«
»Das läuft wohl auf ein und dasselbe Ergebnis heraus«, gab Schnelleisen bärbeißig von sich und wies auf die überall angehefteten Fotos. »Hier ist eine ganze Armee hormongesteuerter Männer versammelt, die in die Sexfalle getappt sind. Am erpressbarsten ist derjenige, der am meisten zu verlieren hat, sprich: der über das dickste Gehaltskonto verfügt.« Er sah sich Beifall heischend nach den anderen Mitarbeitern um, doch ein jeder widmete sich stumm seinen Aufgaben.
»Das ist eine reine Vermutung«, wagte Jasmin Stahl die offene Konfrontation.
»Das ist gesunder Menschenverstand gebündelt mit jede Menge Berufserfahrung«, versuchte Schnelleisen sie zum Schweigen zu bringen.
Doch so schnell war sie nicht kleinzukriegen! »Da eine ganze Fotoreihe fehlt, können wir nicht automatisch davon ausgehen, dass es sich um dieselbe Sorte von Erpresserfotos handelt wie hier sonst überall.«
»Ach? Nicht?« Schnelleisen bedachte sie mit einem süffisanten Blick. »Wovon denn sonst?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Jasmin Stahl kleinlauter als kurz zuvor.
»Sie weiß es nicht.« Schnelleisen stieß ein abgehacktes Lachen aus. »Haben Sie das gehört, Kollegen? Sie weiß es nicht.« Er lachte abermals, wobei sein Triumph deutlich mitschwang. »Weiß alles besser, aber wenn es ums Eingemachte geht, dann eben doch nicht.«
»Ich kann nur vermuten, dass Rolf und Anne bei der fehlenden Person X keinen Erfolg mit der üblichen Masche hatten, aber vielleicht durch einen Zufall auf einen anderen schwachen Punkt gestoßen sind. Eine Achillesferse, die sich weitaus lukrativer ausschlachten ließ als die üblichen kleinen Erpressungen.«
»Gerede, nichts als Gerede.« Schnelleisen baute sich vor ihr auf, stemmte die Fäuste in die Hüften. »Haben Sie Beweise für Ihre wirren Vermutungen? Etwas Konkretes, Greifbares? Oder vielleicht einen Vorschlag, was wir tun sollen? Wo wir Ihren erpressbaren Achilles antreffen können?«
Sie verließen das Treppenhaus im obersten Stockwerk und gelangten auf eine Terrasse, die dem großzügigen und auf Weite und Transparenz ausgerichteten architektonischen Stil der gesamten Anlage mehr als gerecht wurde: Keller sah vor sich eine Plattform, die der Winter zwar fest im Griff hatte wie alles andere unter freiem Himmel, doch an den vielen, derzeit kahlen Stämmen, Ästen, Strauchwerken und Rabatten erkannte Keller, dass bei der Anlage dieses Freiluftrefugiums nicht an Grün gespart worden war. Vielleicht, so ging es ihm durch den Kopf, lag dies daran, dass seinerzeit beim Bau des Klinikums ein grüner Bürgermeister die Fäden in der Hand gehalten hatte. Das lag lange zurück, in den frühen 90er-Jahren, damals, als er selbst noch im Zenit seines Berufsleben stand.
»Was möchten Sie denn von mir wissen?«, fragte Dr. Bartels und legte ein straffes Tempo vor, um die Weitläufigkeit der Terrasse zu nutzen.
Keller fand schnell zurück zur Sache: »Die Polizei geht nicht mehr einzig und allein von der These aus, dass Wollschläger hinter den Morden steckt. Inzwischen hat sich ein weiterer Todesfall ereignet.« Er machte eine kurze Pause, um Bartels Reaktion abzuwarten. Doch der sah ihn nur fragend und
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