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Familientherapie ohne Familie

Titel: Familientherapie ohne Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Weiss
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anderen Perspektive geben zu können.
Das Setting
    Es scheint ein unausgesprochenes Gesetz in der Psychotherapie zu geben, welches besagt, Psychotherapiestunden hätten – wenn etwas dabei herauskommen soll – mindestens einmal in der Woche stattzufinden, besser jedoch noch öfter. Zwei, drei oder gar vier Stunden pro Woche sind beispielsweise in der Psychoanalyse üblich, wobei höhere Stundenzahlen mit größerer Effektivität einhergehen sollen.
    Diese Sichtweise basiert auf folgendem Hintergrund: Die eigentliche Veränderung, die »Arbeit«, leisten Therapeut und Patient zusammen in der Stunde, während die Zeit dazwischen zwar zur Bearbeitung des Erlebten dienen soll, meist jedoch als lästige Pause zwischen dem zentralen Ereignis der Stunden erlebt wird. Unter dieser Sichtweise ist eine möglichst dichte Stundenfolge sinnvoll und logisch.
    Im Gegensatz dazu ist in der systemischen Therapie die Therapiestunde nicht der Ort der Veränderung. Der Schwerpunkt liegt eindeutig auf der Zeit außerhalb der Stunde. Die Therapiestunde gibt Anregungen oder Aufgaben, die der Patient dann für sich lösen kann.
    Therapie ist also kein neues Zuhause, sicher kein Dauerzustand, sondern eindeutig ein vorübergehender Zustand, um eine gewisse Veränderung zu erzielen. Aus diesem Grund kann die Therapie auch in größeren Abständen erfolgen.

    Wie die Frequenz im Einzelfall aussieht, hängt sowohl von dem entsprechenden Patienten als auch von den jeweiligen Arbeitsbedingungen des Therapeuten ab. Eine Sitzung pro Woche ist im Allgemeinen eine Obergrenze für die systemische Einzeltherapie. Häufigere Sitzungen werden nur selten mehr Erfolg bringen. Nur in Einzelfällen oder unvorhersehbaren Krisen mag es angebracht sein, einen Patienten öfter zu sehen.
    Eine Untergrenze für die Therapiefrequenz kann nur schlecht gegeben werden. Von einer Sitzung alle zwei Wochen bis einmal alle vier bis sechs Wochen oder sogar noch seltener reicht hier das Spektrum. Dabei ist es sinnvoll, Patienten aus sehr rigiden Familiensystemen (bzw. Familien, die sich vom anstehenden Wandel bedroht fühlen) eher seltener zu sehen, da für sie der Wandel ängstigend ist und daher Zeit braucht. In anderen Fällen, wo Wandel weniger bedrohliche Implikationen hat, kann dagegen eine häufigere Frequenz richtig sein. Gunthard Weber und Fritz Simon 6 schlagen Sitzungen in einem Abstand von drei bis vier Wochen vor, unter gleichzeitiger Beschränkung auf maximal zehn Sitzungen. In eine ähnliche Richtung geht die Überlegung von Luigi Boscolo, der von einer »langen Kurztherapie« 7 spricht. Diese ist auf 20 Stunden limitiert, jedoch offen bezüglich der Dauer. Sitzungen finden zum Beispiel in monatlichem Abstand statt.
    Bei Patienten mit sehr großer Therapeutenerfahrung, zahlreichen abgebrochenen Therapien, also mit dem sogenannten »Doctor-Shopping-Syndrom« oder »Koryphäen-Killer-Syndrom«, empfiehlt es sich, sehr zurückhaltend in der Therapiefrequenz zu sein.
     
    So kam ein 55-jähriger, sehr gebildeter Akademiker in meine Behandlung und drängte auf eine hochfrequente Einzeltherapie, da er erkannt habe, dass ich der erste Therapeut sei, dem er endlich sein volles Vertrauen schenken könne. Wie sich langsam herausstellte, hatte er in den vergangenen Jahren bereits eine Vielzahl von Therapien bei Kollegen verschiedenster Orientierungen begonnen und jeweils nach einigen Stunden wieder abgebrochen.

    Trotz der lärmenden Symptomatik (unerträgliche Ängste, das Gefühl, das Herz könne in jedem Moment zu schlagen aufhören), schockierte ich den Patienten, als ich ihm höchstens eine Sitzung pro Monat vorschlug und gleichzeitig die Vermutung äu ßerte, das sei wahrscheinlich noch etwas zu häufig. Ich sei mir nämlich sicher, dass er ein sehr sensibler »Therapieverwerter« sei und deshalb in weit auseinanderliegenden Stunden große Fortschritte machen könne. Deshalb sei ich vollständig einverstanden, wenn er sich entschlösse, von sich aus größere Pausen einzulegen, um in dieser Zeit seiner eigenen Entwicklung ihre Zeit zu geben.
    In der Tat wählte der Patient, trotz anfänglicher Proteste, einen sehr losen Rhythmus, der diesmal nicht zur Beendigung der Therapie führte, da er von Anfang an Teil der Abmachung gewesen war. Gleichzeitig war es möglich, seine »Unzuverlässigkeit« positiv zu konnotieren und ihr den Sinn eines selbst gewählten Tempos der Veränderung zuzuschreiben.
     
    Es mag möglicherweise befremdend klingen, solch lange Pausen in

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