Familientherapie ohne Familie
geht nicht immer, deswegen schlagen wir folgendes Vorgehen vor:
Jeden Morgen nehmen Sie sich genau eine Stunde Zeit, in der Sie sich ausschließlich der Vergangenheit widmen. Denken Sie über die schönen Zeiten mit der Verstorbenen nach und verbannen Sie währenddessen alle anderen Gedanken an die fröhlichen Seiten Ihres Lebens aus Ihrem Kopf.
Nach dieser einen Stunde können Sie dann wieder an anderes denken, wobei es sich hilfreich erwiesen hat, die bedrückenden Gedanken an die Vergangenheit für den nächsten Tag zu notieren. Umgekehrt empfehle ich Ihnen, alle Gedanken an die heiteren Seiten Ihres Lebens auf die Zeit nach der einen Stunde der Besinnung zu verschieben.
Eine derartige Intervention – eine Symptomverschreibung – berücksichtigt die Dynamik des Patienten und entmischt die Phasen der Trauer von denen der aktiven Lebensbejahung. Allerdings nicht, indem, wie meist üblich, der Patient auf die fröhlichen und schönen Seiten seines Lebens aufmerksam gemacht wird (das ist vorher nur en passant geschehen), sondern
durch die Betonung der traurigen Seiten. Wie leicht vorhersehbar, wird der Patient sich nach einer Weile weigern, jeden Tag eine volle Stunde zu trauern. Es klingt nicht einmal schwierig, doch empfehle ich es dem Leser einmal zur Selbsterfahrung, sich eine Stunde lang ausschließlich mit den bedrückenden Teilen seines Lebens zu beschäftigen. Auch die Bereitschaft zur Trauer kann sich so erschöpfen. Das Zeitmaß richtet sich natürlich nach dem jeweiligen Patienten, es kann sehr viel kürzer oder länger sein.
In diesem Zusammenhang sei eine Anekdote aus dem Leben von Martin Luther angeführt: Martin Luther, der fromme Mann, wurde eines Tages von einem Fürsten gefragt, ob er wohl beim Beten so vertieft sei, dass er während des Gebets an wirklich nichts anderes als das Gebet denken könne. Als Luther die Frage bejahte, bot ihm der Fürst die Wette um ein Pferd an. Luther kniete sich hin, sprach ein »Vaterunser«. Als er geendet hatte, fragte ihn der Fürst, wie es denn gegangen sei. »Gut«, antwortete Luther, »bis fast zum Schluss, da kam mir der Gedanke, ob beim Pferd wohl auch ein Sattel sei.«
Wenn nun der Patient nach einer Weile keine Bereitschaft zur weiteren Trauer zeigt, wird sich der Therapeut hüten, die Zeit vorschnell zu reduzieren, sondern sich in ein längeres Feilschen mit dem Patienten einlassen, bei dem er nur unwillig bereit ist, sich auf eine langsame Reduktion der Zeiten einzulassen. Der Patient wird ihn so immer wieder mit guten Argumenten zu überzeugen wissen, warum die Trauer nicht mehr so nötig ist.
Nach der Intervention folgt die Vereinbarung der nächsten Stunde, die üblicherweise in der folgenden Woche stattfindet, wenn nicht andere Gründe für einen längeren Zeitraum sprechen. Wenn Patienten rasche Fortschritte machen, kann es beispielsweise sinnvoll sein, die Zeiträume zu verlängern, um die Autonomisierung zu beschleunigen und die Fortschritte zu würdigen.
In dieser Weise arbeitete also das BFTC. Die Beschreibung war notwendigerweise nur das Skelett der wirklichen Erscheinung der Therapie. Damit es lebendig wird, fehlt noch das Wichtigste, nämlich die Person des Therapeuten, der das Skelett mit Fleisch und Blut füllen muss, mit seiner Persönlichkeit, seiner Lebenserfahrung und seiner therapeutischen Ausbildung. Erst dadurch kann das Modell hilfreich werden.
SYSTEMISCHE EINZELTHERAPIE
Nachdem in den vergangenen Kapiteln ein Überblick über die allgemeinen Grundlagen der systemischen Therapie gegeben wurde, soll nun spezifischer auf das eigentliche Thema des Buches eingegangen werden: die Einzeltherapie.
Die systemische Therapie ist seit der Jahrtausendwende so weit verbreitet, dass es schon wieder schwierig wird zu erkennen, was eigentlich »systemisch« im Einzelfall bedeutet. Bei der Entstehung dieses Buches war die systemische Welt jedoch weit übersichtlicher und gegliederter. Diese Übersichtlichkeit erleichtert, so hoffe ich, auch heute noch den Einstieg in systemische Denk- und Handlungsweisen.
Es geht mir bei der Darstellung der systemischen Einzeltherapie weniger um eine neue Therapieform als um eine andere Sichtweise von Problemen. Die Art der Wahrnehmung wird vielleicht eher durch Beispiele von Therapien deutlich als durch theoretische Begründungen, die auch nicht meine persönliche Stärke darstellen. Dabei werde ich eher kleine Fallvignetten geben als ausführliche Kasuistiken, da sie die
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