Familientherapie ohne Familie
ersten Schritt wohl wünschen?«
»Woran könnte Ihre Frau erkennen, dass Sie sich nicht mehr depressiv verhalten?«
Hier wird also eine hypothetische Außenperspektive eingeführt, die sich in der therapeutischen Praxis als ungeheuer hilfreich erwiesen hat. Patienten, denen nichts zu eigenen Zielen einfällt, können überraschenderweise leicht über die Phantasien und Erwartungen ihrer Familienmitglieder bezüglich der eigenen Person sprechen.
Wenn schon zu Beginn einer Behandlung die Perspektive auf das Verhalten gelenkt wird, so unter folgender Überlegung: Durch die Frage, wie andere eine Besserung erkennen können, wird eine neue Perspektive in die Behandlung eingeführt, die den Patienten mit einer neuen Situation konfrontiert. Es bringt ihn auf den Gedanken: »Wenn ich im Bett liegen bleibe statt aufzustehen, werden das meine Frau und die Kinder eher als ›Depression‹ verstehen, während anderes Verhalten von ihnen als Zeichen der Besserung verstanden wird.«
So erhält der Patient ein überschaubares Therapieziel. Er verharrt nicht bei dem lähmenden Gedanken: »Um gesund zu werden, muss ich anders fühlen!«
Bei der Formulierung von Zielen einer Behandlung sollte sich der Therapeut Zeit lassen und ein möglichst plastisches Bild von der Zukunft des Patienten entwerfen. Sowohl die individuellen Ziele als auch die Vernetzungen mit den Wahrnehmungen und möglichen Reaktionen der Umgebung bilden den Brennpunkt der Aufmerksamkeit. Eine Reihe von Fragen kann gestellt werden:
»Was würde sich in Ihrem Leben am meisten ändern?«
»Wen würde denn eine erfolgreiche Behandlung am meisten tangieren?«
»Wie würde derjenige wohl reagieren?«
»Wer erwartet am ehesten einen Erfolg der Behandlung?«
»Wer wünscht sich einen Erfolg am meisten?«
»Wer würde einen Erfolg bedauern?«
»Was glaubt wohl Ihre Frau (Ihre Eltern), wie lange eine Behandlung dauern wird?«
»Was für Auswirkungen wird ein Behandlungserfolg auf Ihre Arbeit haben?«
Dabei sollen zwei Ziele verfolgt werden:
1. Mit der Formulierung eines Zieles wird eine realistische Vision von der Zukunft aufgestellt. Durch das Wissen über das Ziel lässt sich leichter bestimmen, in welche Richtung die ersten Schritte gehen sollten.
2. Die Implikationen der Veränderung lassen sich leichter erkennen, da deutlich wird, wie das veränderte Verhalten auf die anderen zurückwirkt. Die meisten Patienten kennen zwar jede Nuance ihrer Beschwerden, haben jedoch nur sehr ungefähre Vorstellungen von der Zeit nach deren Überwindung.
Oft stehen die individuellen Ziele in einem Spannungsverhältnis mit den möglichen Reaktionen der Familie oder des Partners. Auf die Frage »Was wird sich in Ihrem Leben ändern, wenn Sie die Beschwerden nicht mehr haben?« erhält der Therapeut im Allgemeinen die Antwort: »Dann ist alles bestens!« Erst durch weitere Fragen werden die sozialen Implikationen deutlich, die mit der Veränderung verbunden sind.
Christine D., eine 30-jährige Romanistin, kam wegen einer herzphobischen Symptomatik in Behandlung. Sie hatte ihr Studium sehr erfolgreich abgeschlossen und war jetzt dabei, ihre Dissertation zu schreiben. Zu diesem Zweck musste sie in eine fremde Stadt ziehen. Überraschenderweise wurde sie kurze Zeit später von immer heftigeren Ängsten gepeinigt. Sie litt unter der Befürchtung, ihr Herz könne stehen bleiben, sie könne einen Herzinfarkt bekommen oder an einer anderen schweren Krankheit leiden. Über Wochen waren die Ängste so ausgeprägt, dass sie in
Panik mit dem Taxi in die Notambulanz des nächsten Krankenhauses fahren musste, um sich verschiedenen Untersuchungen zu unterziehen. Die Ärzte dort waren anfänglich meist von den geschilderten Beschwerden beeindruckt, vermuteten eine Herzmuskelentzündung oder Ähnliches, kamen aber regelmäßig zu dem Schluss, es liege keine organische Krankheit vor.
Christine ließ sich durch den günstigen Bescheid für den Augenblick beruhigen. Leider hielt die Ruhe selten länger als ein oder zwei Tage an, dann traten die Befürchtungen in unverminderter Heftigkeit wieder zutage. Erneut ließ sie sich mit dem Taxi in ein Krankenhaus fahren – selbst fahren schien zu gefährlich, da sie unterwegs ja einen Herzinfarkt erleiden könnte. Nur diesmal musste es ein anderes Krankenhaus sein, da sie sich von der einleuchtenden Überlegung leiten ließ, die Ärzte würden sie nicht mit der gleichen Gründlichkeit wieder untersuchen und dadurch möglicherweise die
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