Familientherapie ohne Familie
nochmals die Bedeutung der Lösungen hervorgehoben. Ich benötige jedoch für meine Arbeit ein gewisses Maß an Information über die Beschwerden. Dies hängt vermutlich mit meiner medizinischen Sozialisation zusammen. Ich fühle mich sonst desorientiert. Auch der Patient wird am Anfang eines Interviews über die Beschwerden reden wollen. Falls der Therapeut auf dieses Bedürfnis nicht eingeht, wird ein Betroffener das leicht als Desinteresse verstehen.
Statt nun aber die Beschwerden zur Leitschiene der weiteren Fragen werden zu lassen, wendet sich der Brennpunkt des Interesses bald den anderen Seiten des Patienten zu. Im Mittelpunkt sollen seine Ressourcen stehen, das heißt die Anteile, die ihm helfen, die Beschwerden zu überwinden, oder die ihn bereits in der Vergangenheit die Beschwerden überwinden ließen. Deshalb wendet sich der Therapeut zwei Bereichen zu: den möglichen Zielen einer Therapie und den Ausnahmen, in denen die Beschwerden nicht auftreten.
Der erste Bereich wurde bereits dargestellt. Er wird etwa durch Fragen nach dem Ende der Therapie erschlossen (»Woran werden Sie erkennen, dass Sie nicht wieder hierherzukommen brauchen?«). Erst durch die klare Formulierung des Zieles wird ein Fokus auch für den Patienten greifbar. Hier insistiere ich meist eine Weile, bis ich ein möglichst konkretes Ziel erkennen kann. Was auf den ersten Blick mühsam ist, hat für den Verlauf der Therapie Vorteile. Durch die Vision des Zieles können die einzelnen Schritte gerichteter und schneller erfolgen.
Den zweiten Bereich bilden die Ausnahmen, also die Gelegenheiten, bei denen der Patient keine Beschwerden hat. In den meisten Therapien wird der Normalität keine besondere Wertschätzung zuteil. Hier ist das anders. Die »guten« Zeiten werden nämlich nicht als selbstverständlich angesehen. In ihnen muss der Patient etwas aktiv besser gemacht haben als in den schlechten. Auf dieser trivialen Erkenntnis beruht dann ein peinlich genaues Herausarbeiten der Dinge, die der Patient (oder die Familie) in solchen »guten« Zeiten anders macht. Auf diesen Ressourcen liegt dann die ganze Betonung.
Für einen Therapeuten, der gewohnt ist, der Pathologie die ganze Aufmerksamkeit zuzuwenden, ist das eine große Umstellung. Besonders Ärzte werden von allen krankhaften und abnormen Erscheinungen und Verhaltensweisen magnetisch angezogen. Erst langsam können sie das Augenmerk auf die vielen kleinen Begebenheiten richten, die im Leben eines Patienten anders, nämlich positiver verlaufen. Das ist allerdings
phasenweise ein durchaus mühsamer Prozess und erinnert an das Schwimmen gegen den Strom.
Es lassen sich verschiedene Ausnahmesituationen unterscheiden. Dabei ist der Begriff »Ausnahme« missverständlich, denn tatsächlich überwiegen die beschwerdefreien oder beschwerdearmen Phasen im Leben eines Patienten bei Weitem. Die Einteilung der verschiedenen »Ausnahmesituationen« und die jeweiligen Folgen für eine Behandlung wurden bereits im Kapitel über das BFTC dargestellt (siehe Seite 63 ff.).
Jede positive Variante wird dann möglichst intensiv erforscht, um zu sehen, was sich davon eventuell auch für die Zukunft nutzen lässt. Dabei werden einige Dinge zur Sprache kommen, die wahrscheinlich nur schwer oder gar nicht nutzbar sind, da sie auf nicht wiederholbaren Ereignissen beruhen. Der Therapeut braucht hier einen langen Atem. Er muss akzeptieren, dass auch kleine Fortschritte ausreichend sind.
Ein 24 Jahre alter sportlicher Mann kommt wegen einer Bulimie in Behandlung. Er eröffnet das Gespräch mit der Mitteilung, er esse und erbreche seit vielen Jahren, ohne darüber Kontrolle zu haben. Der Therapeut hört noch kurze Zeit zu und stellt noch einige Fragen zum sozialen Umfeld des Patienten. Dann konzentriert er sich auf die Ausnahmen.
Therapeut: »Sie sagten, Sie haben eine Bulimie. Wann war denn der letzte Anfall?«
Patient: »Vor drei Tagen.«
Therapeut: »Vor drei Tagen. Ist das ungewöhnlich für Sie, drei Tage keinen Anfall zu haben?«
Patient: »Na, so einigermaßen, meist sind es nur zwei Tage, die ich durchhalte.«
Therapeut: »Was war denn anders in den drei Tagen, in denen Sie nicht erbrochen haben?«
Patient: »Ich weiß nicht...«
Therapeut: »Schauen Sie, was haben Sie anders gemacht in den drei Tagen?«
Patient: »Ich habe mich besser gefühlt.«
Therapeut: »Was war noch anders?«
Patient: »Ich war auch mehr unter Leuten, da komme ich einfach
nicht so dazu. Essen und erbrechen kann
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