Familientherapie ohne Familie
wichtig, sich rechtzeitig darauf einzustellen.
Mit einer solchen Haltung ist der Therapeut plötzlich nicht mehr für eine Besserung verantwortlich. Der Patient sieht sich nun als Hoffnungsträger einem resignierten Therapeuten gegenüber. Dadurch ist er wieder in der Lage, die andere Seite seiner Situation zu spüren: »Wissen Sie, ganz so schlecht ist es doch nicht. Bei manchen Gelegenheiten geht es ziemlich gut...«
Es ist eine faszinierende Erfahrung, mit welcher voraussagbaren Sicherheit sich solche Reaktionen einstellen.
Umgekehrt lassen sich einige eingefahrene Behandlungen als eine immer gleiche Kommunikationsroutine verstehen: Der Patient stellt den depressiven Anteil dar, und der Therapeut bemüht sich hartnäckig, einen Fortschritt zu erzielen. Beide sind in einem Muster gefangen, das ihnen unbewusst ist. Der Therapeut empfindet die Behandlung als immer unerfreulicher und vermutet zunehmend eine schwerere Störung beim Patienten als ursprünglich angenommen. Verschärfte Diagnosen können so ein Ausdruck der geschilderten Beziehungsdynamik sein.
Durch das Eingehen auf die pessimistische Seite gibt der Therapeut dem Patienten Gelegenheit, sich die optimistische Perspektive zu eigen zu machen. Dadurch kann der Patient eine neue emotionale Erfahrung machen, die ihm vorher verschlossen war, da er sich stets gegen die Aufmunterungen der Umgebung innerlich »zur Wehr setzen« musste. (»Die wissen
gar nicht, wie schlecht es mir geht.«) Er äußert daher vorwiegend Pessimistisches, was die Umgebung umgekehrt wieder zu aufmunternden Worten verleitet usw.
Wenn so ein Zyklus in der beschriebenen Art durchbrochen ist, sollte der Therapeut die pessimistische Perspektive eine Weile beibehalten. Es wird ihm nicht schwerfallen, den ersten zaghaften Hoffnungszeichen mit großer Skepsis zu begegnen. Hat nicht der Patient ihm vorher eine Fülle von Argumenten aufgezählt, warum eine Änderung seines Verhaltens unmöglich sei? Diese Argumente des Patienten wird der Therapeut nun aufzählen und dadurch den Patienten in die Lage versetzen, Gegenargumente zu suchen. Statt gezogen zu werden, arbeitet sich der Patient selbst aus dem Sumpf heraus. Die eigene Kraft dazu verspürt er erst, nachdem die dauernden Rettungsversuche beendet wurden und ihn jemand, im Gegenteil, ein klein wenig mehr hineingesto ßen hat.
In der systemischen Arbeit mit Einzelnen gibt es noch weitere Behandlungstechniken, die sich sehr fruchtbar einsetzen lassen. Eine davon ist die Bildung von Skalen.
Skalen können auf die unterschiedlichste Weise eingesetzt werden: zur Beschreibung von eigenen Gefühlen, um Nähe zu anderen Personen auszudrücken, um Fortschritte in der Behandlung zu charakterisieren oder um körperliche Beschwerden zu schildern. Der Vorteil von Skalen gegenüber Aussagen wie »gut«, »mittel«, »schlecht« ist eine wesentlich genauere Abstufung. Damit erhält der Therapeut – entsprechend Bateson 14 – mehr Informationen, auf die es ankommt. Ich will dazu einige Beispiele geben:
Eine Patientin klagte seit Wochen über unerträgliche Kopfschmerzen. Jeden Tag sei sie gezwungen, mehrere Schmerztabletten einzunehmen. Sie wolle so nicht weiterleben.
Ich ließ die Patientin eine Skala bilden: »Angenommen, der schlimmste denkbare Zustand sei auf einer Skala ›10‹ und der beste, an dem Sie sich rundherum wohlfühlen, sei ›1‹. Sie sagten
mir, vor einem Monat sei es besonders schlimm gewesen, was für eine Bewertung würden Sie dem Zustand damals geben?«
Die Patientin sagte: »›9‹, vielleicht zwischen ›9‹ und ›10‹.« »Und der für Sie beste Zustand in den letzten Wochen, welche Note würden Sie dem geben?«
»Das war, als meine Schwiegermutter über das Wochenende bei meiner Schwester war und ich sie nicht pflegen musste. Das war so eine ›3‹.«
»Wie war denn das, als Ihre Schwiegermutter wieder zurückkam?« Usw.
Eine Patientin mit herzphobischen Beschwerden erzählte in einer Stunde über eine Konfliktsituation. Sie stände zwischen zwei Männern und könnte sich nicht entscheiden. Sie möge beide Männer sehr gerne. Der eine sei sehr verlässlich und sie kenne ihn schon lange Zeit. Der andere sei sehr attraktiv, verspräche eher mehr Abenteuer, aber sie wisse nicht genau, wie das auf die Dauer ausgehen werde.
»Stellen Sie sich vor, es gäbe eine Skala von zehn Stufen der Nähe zu jedem Mann. ›10‹ sei extrem weit entfernt und ›1‹ sei ganz intim. Wie stehen Sie denn jetzt zu
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