Familientherapie ohne Familie
jedem der beiden Männer?«
»Zum ersten etwa so ›5‹ bis ›6‹ und zum anderen ›3‹ oder auch ›2‹ bis ›3‹.«
»Gesetzt den Fall, Ihre Beschwerden würden zunehmen, wie sähe es dann wohl aus?«
»Dann würde es wahrscheinlich beinahe umgekehrt aussehen.«
»Und wie wäre es, wenn die Beschwerden vollständig behoben sind?«
»Oje, dann würde ich mich total auf den attraktiven Mann einlassen.«
»Wie wäre das?«
»Das macht mir eine ganz schöne Angst!«
Ein junger Mann kam zu einer Beratung. Er könne sich nicht zwischen zwei Studienfächern entscheiden. Er sei für beides ausreichend begabt, habe auch schon eines angefangen, jetzt werde er aber wieder unsicher. Er fühle sich gerade total in der Mitte zwischen zwei Möglichkeiten.
Ohne hier die Einzelheiten darstellen zu wollen, erwähne ich nur eine Frage, diesmal in Bezug auf die prozentuale Wahrscheinlichkeit gestellt: »Stellen Sie sich vor, ein Jahr ist vergangen und Sie kommen wieder hierher. Wir wollen offenlassen, wie oft wir uns zwischenzeitlich gesehen haben. Wie groß – in Prozent – schätzen Sie die Chance ein, dass Sie dann das Fach A studieren?«
»Das ist eine verdammt schwierige Frage«, antwortete der junge Mann. Dann lächelte er: »Wahrscheinlich so 60 %...«
Tatsächlich studierte er dieses Fach, als wir uns später zufällig trafen. (Manchmal stufe ich durch Prozentsätze statt durch Skalen ab.)
Skalen schlüsseln stärker auf. Sie sind für mich inzwischen zu einem häufig genutzten Hilfsmittel geworden, um zusätzliche Informationen zu gewinnen. Gleichzeitig geben sie dem Patienten auch eine andere Sichtweise von seinem Problem, da er gezwungen ist, durch die neue Formulierung neue Informationen aufzunehmen. So kann in ähnlicher Weise das Ergebnis einer Therapie in Gedanken vorweggenommen werden:
Ein Mann kam in einer Beziehungskrise zum Therapeuten. Er wisse nicht, ob er bei seiner langjährigen Freundin bleiben solle oder nicht. Er könne einfach nicht unterscheiden, ob die gegenwärtigen Schwierigkeiten eine sehr persönliche Angelegenheit von ihm selbst seien oder doch eher mit der Beziehung zusammenhingen.
Der Therapeut stellte daher folgende Frage:
»Wir können das gerne in einigen Sitzungen klären. Doch bevor wir anfangen, würde ich gerne eines wissen. Bitte sagen Sie mir doch, ohne groß nachzudenken, was wohl das wahrscheinlichste Ergebnis der Therapie sein wird: Zusammenbleiben oder Trennung?«
Der Mann zögerte eine Weile, dann antwortete er sehr bewegt:
»Wenn ich ehrlich bin – Trennung! Mir fehlt aber noch der Mut.«
Die folgenden wenigen Sitzungen konnten sich daraufhin auf die Bearbeitung der Trennung konzentrieren, die dann auch tatsächlich sehr bald erfolgte.
Es wird an dieser Stelle nun höchste Zeit, über eines der wesentlichsten Prinzipien der systemischen Einzeltherapie zu sprechen – das Einbeziehen des sozialen Umfeldes, also meist der Familie. Erst durch das Verständnis des Symptoms im sozialen Kontext kann der Therapeut zu einer systemischen Sicht kommen, die ihm wirkungsvolle Interventionen ermöglicht.
Die hierfür geeignete Technik ist das zirkuläre Fragen, das der Leser bereits im Mailänder Modell kennenlernen konnte. (Zur Erinnerung: Zirkuläres Fragen bedeutet, jemanden über einen Dritten in dessen Gegenwart zu befragen.)
In der Einzelsituation fehlen nun Personen, die man zirkulär befragen könnte. Um dennoch auf die beschriebene Weise ein Bild von der sozialen Realität gewinnen zu können, wird eine hypothetische dritte Person eingeführt.
»Wenn Ihre Frau jetzt hier wäre, was würde sie zu Ihren Beschwerden sagen?«
Dieser Kunstgriff erlaubt es, ein Symptom aus einer Fülle von Perspektiven neu zu beleuchten. Wie sieht die Ehefrau das Problem? Wie die Kinder? Was glaubt die Mutter? Usw.
Selbstverständlich sind das nicht die tatsächlichen Antworten der imaginierten Personen. Die wirkliche Ehefrau würde möglicherweise ganz anders antworten. Das ist sicherlich eine Einschränkung, doch nicht unbedingt eine wesentliche. Tatsächlich kommt es weniger auf die wirkliche Meinung des nicht anwesenden Dritten an, als auf die Einführung von anderen Sichtweisen. Entscheidend ist die Relativierung der Wahrnehmung des Patienten durch andere Auffassungen. Überraschenderweise treffen die Mutmaßungen über die Meinungen von Familienmitgliedern oft zu. Gerade bei chronifizierten Konflikten kann ein Patient die Meinung des Ehepartners oft nicht
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