Familientherapie ohne Familie
können oder wollen. Der Patient wird in die Überlegungen des Therapeuten miteinbezogen. Die Intervention zielt auf einen nicht anwesenden Dritten. Man kann sie daher als offene Verschreibung bezeichnen.
Frau Heidi M., 39 Jahre, klagte in der Behandlung über folgendes Problem: Sie sei glücklich mit ihrem Mann verheiratet, die Kinder seien zwar anstrengend, aber sehr gesund und vital, finanzielle Probleme gäbe es auch nicht. Schwierigkeiten habe sie nur mit den Schwiegereltern. Der Ehemann sei leider beruflich häufig lange abwesend, weswegen sich die gesamte Aufmerksamkeit der Schwiegereltern auf sie und ihre Kinder konzentrieren würde. Sie schätze es zwar, wenn ihr Hilfe angeboten werde, die jetzige Situation sei aber nicht mehr erträglich. Es vergehe kein Tag, an dem die Schwiegereltern nicht ein- oder zweimal vorbeischauen würden – ganz abgesehen von ungezählten Telefonanrufen. Sie fühle sich durch die Hilfsangebote in ihrer Selbstständigkeit eingeschränkt und fange an, ihre Schwiegereltern zu hassen, könne sich aber nicht wehren. Sie habe schon einiges versucht, könne aber gegen die Vitalität dieser Leute nicht an. Nachdem klar wurde, was alles schon versucht wurde – ein offenes Wort des Ehemanns, stillere Klagen von ihrer Seite, feindliches Schweigen -, empfahl ich der Patientin Folgendes. Dabei nutzte ich die Beschreibung eines ähnlichen Falles von Milton Erickson.
»Ich möchte Ihnen raten, Ihr bisheriges Vorgehen, das ja nicht besonders erfolgreich war, einmal auf den Kopf zu stellen.
Bitte machen Sie sich für die nächsten vier bis sechs Wochen einen genauen Plan. Sie sollten in der Zeit einmal den Spieß herumdrehen. Sie werden jetzt die Schwiegereltern mit Kontaktangeboten überhäufen und ihnen dadurch die Gelegenheit geben, sich einmal in Ihre Situation einfühlen zu können. Rufen Sie daher zweimal täglich ohne Grund dort an. Vereinbaren Sie für jeden Tag etwas mit Ihnen. Haben Sie keine Scheu, die Schwiegereltern als Babysitter zu gebrauchen und in der Zeit etwas Angenehmes für sich zu unternehmen. Falls sich, das ist vorhersehbar, die Schwiegereltern weniger häufig melden sollten, lassen Sie nicht nach. Rufen Sie ein wenig vorwurfsvoll und besorgt an, was denn mit ihnen sei. Vor allen Dingen, geben Sie sich nicht mit ersten Erfolgen zufrieden, sondern halten Sie bis zu unserem nächsten Treffen in sechs Wochen durch.«
Als ich Heidi M. wieder traf, lachte sie mich an. Sie war hoch zufrieden. Es sei am Anfang schwer gewesen, aber dann habe es ihr eine diebische Freude gemacht. Anfänglich hätten die Schwiegereltern sich gefreut, dann aber immer mehr zurückgezogen. Als Heidi M. sie aber weiterhin mit Kontakten überschüttete, luden sie die Patientin schließlich zu einem Gespräch ein. Ihr wurde erklärt, dass sie, die Schwiegereltern, nun auch nicht mehr die Jüngsten seien und gemerkt hätten, sie wollten mehr Zeit für sich verbringen. Kinder und Enkel seien zwar eine Freude, sie wollten aber darüber hinaus mehr Zeit für die eigenen Freunde und Bekannten haben. Sie solle es ihnen nicht übel nehmen, wenn sie sich etwas mehr zurückziehen würden.
Die Patientin erzählte mir, sie habe das Angebot gerne angenommen, man habe sich sehr freundschaftlich geeinigt. Mittlerweile ist das Verhältnis der drei Generationen deutlich besser geworden.
Offene Verschreibungen können noch in einer anderen Weise angewendet werden. Bei kooperativen Patienten mache ich aus meiner Intention keinen Hehl. Die Verschreibung und das Ziel können dem Patienten zumindest in Teilen dargelegt werden.
Der 40-jährige Heinrich O. litt seit Jahren unter einer merkwürdigen Symptomatik. In gewissen Situationen beginne sein Kopf »feinschlägig« zu wackeln und manchmal zöge es den Kopf mit Macht zur Seite. Außerdem zitterten ihm manchmal heftig die Hände. Er habe das Gefühl, alle Welt schaue auf ihn, wenn sein Kopf so in Bewegung sei. Das Symptom würde nicht beständig auftreten, sondern lediglich in ganz typischen Situationen: Meist seien es die Gelegenheiten, wenn er mit mehreren Unbekannten zusammen an einem Tisch sitze und er sich innerlich unruhig und unsicher fühle. Heinrich war schon als Kind nervös gewesen. Ein leichtes Zittern der Hände hatte er auch schon früher festgestellt. In der letzten Zeit wurde aber sowohl das Wackeln des Kopfes als auch das Zittern der Hände so schlimm, dass er schließlich nacheinander in zwei neurologische Kliniken eingewiesen wurde.
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